ITlslrchen, Sagen und Geschichten,
216. Der Tautropfen.
s war ein kleines, trautes Fenster, das stand offen. Nelken blühten
in Töpfen auf dem Fensterbrett, dazu rotes Geranium und sü߬
duftender Goldlack; im Garten unten aber streckte ein Rosenstrauch seine
Zweige bis an das Fenster, und die schönsten Zentifolien saßen darauf,
die ein Maler nur malen kann.
Eines Morgens lag auf einem grünen Blatte des Rosenstrauchs
ein Tautropfen.
Wo war er hergekommen? Er wußte nichts davon und fragte nichts
danach.
Im Westen sanken die Sterne und blinzelten wie müde Augen.
Im Osten fing es an, licht zu werden, und ein kühles Morgenlüftchen
flog durch den Garten und weckte die würdigen alten Bäume, indem
es sie am Blatthaar zupfte wie ein mutwilliges Kind. Es küßte die
schlafenden Zentifolien auf den halbgeöffneten Mund und streifte mit
der Hand über die Blumen am Fenster. Es sah auch den Tautropfen
liegen.
„Guten Morgen, Kleiner", sagte es; „soll ich dir einen Puff geben?"
Und damit wippte es ein wenig an dem Blatte, worauf der Tropfen
lag, daß dieser heftig zitterte.