Full text: Ein Lesebuch für die 6. und 5. Klasse höherer Mädchenschulen (Teil 2, [Schülerband])

Meißner. 
[III 93 
August Gottlieb Meißner. 
*59. Sonne und Wind. 
Einst stritten sich Sonne und Wind, wer von ihnen beiden 
der stärkere sei. Man ward einig, derjenige sollte dafür gelten, 
der einen Wanderer, den sie eben vor sich sahen, am ersten 
nötigen würde, seinen Mantel abzulegen. 
Sogleich fing der Wind zu stürmen an. Regen- und Hagel¬ 
schauer unterstützten ihn. Der arme Wanderer wehklagte,- aber 
er wickelte sich immer fester und fester in seinen Mantel ein und 
setzte seinen Weg fort, so gut er konnte. Jetzt kam die Reihe an 
die Sonne. Senkrecht und kräftig ließ sie ihre Strahlen herab¬ 
fallen. Himmel und Erde wurden heiter- die Lüfte erwärmtet: 
sich. Der Wanderer vermochte nicht länger seinen Mantel auf 
den Schultern zu leiden. Er warf ihn ab und erquickte sich im 
Schatten eines Baumes, indes die Sonne sich ihres Sieges 
erfreute. 
Zehnmal sichrer wirken Milde und Freundlichkeit, als Un¬ 
gestüm und Strenge. 
*60. Die beiden Krebse. 
„Geh doch nicht so krumm, sondern in gerader Linie!" rief 
ein älterer Krebs einem jüngeren zu. „Von Herzen gern," er¬ 
widerte dieser, „nur bitte ich, mir voran zu gehen!" 
Tadle an niemanden einen Fehler, den du selbst besitzest. 
61. Die Eiche und die Weide. 
Eine große starke Eiche und eine schlanke Weide standen 
nebeneinander, und oft warf jene dieser letztern spöttisch vor, daß 
sie nach jedem Windhauch sich demütig neige, indes die Eiche 
auch den stärksten Sturin mit unbewegtem Gipfel erdulde. Einst, 
indem sie eben darüber stritten, entstand ein fürchterliches Unge¬ 
witter. Der Wind tobte vom Abend her; die Weide krümmte sich, 
so oft er sie traf,- aber die Eiche bot nach gewöhnlicher Art ihm 
Trotz. Doch auf einmal faßte sie jetzt die ganze Gewalt des
	        
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