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E. Schilderungen, Beschreibungen und Betrachtungen.
Wie die Spinne ihr Netz baut, das habe ich oft beobachtet; aber es ist
mir doch immer noch ein Wunder. Wie gleichmäßig muß aus den vielen,
vielen Röhrchen der sechs Spinnwarzen am Ende des Hinterleibs der klebrige
Schleim herausfließen, der nun von den kammförmig gezähnten Klauet: der
vier Beinpaare zu einem haltbare:: Faden gedreht wird, und wie sicher muß
es die Spinne verstehen, Entfernungen abzuschätzen, wozu sie ganz gewiß
durch ihre acht hochentwickelten Punktaugen befähigt wird, deren jedes gleich
unserm Sinnesorgan eine große Linse aufweist, einen Glaskörper u::d eine
stäbchenreiche Netzhaut.
Du staunst, wie viele Organe allein das winzige Kopfbruststück aufweist;
aber da sind ja noch das Brustganglion, gewissermaßen das Gehirn, mit seinen
nervösen Ausstrahlungen, die zahlreichen Verzweigungen des Gefäßsystems
und ganz besonders die interessanten Mu::dwerkzeuge, von denen du die
beiden gliederreichen Taster und zwischen ihne:: die kräftigen Kieferzange::
auch mit bloßem Auge erkennst. Sie sind ganz ähnlich gebaut wie die Gift¬
zähne unsrer Kreuzotter, d. h. sie sind hohl und stehen mit einer Giftdrüse
in Verbindung, aus welcher ein wi::ziges Tröpfchen in die Wunde dringt,
sobald die Spinne ihre kleine lebende Beute gepackt hat. Ei::e Mücke, die
ins Netz fliegt, ist in: Nu gelähmt, auch eine gewöhnliche Fliege zappelt ::ur
ein paar Seku::den lang. Ein großer Brummer allerdings ist nicht so schnell
zu überwältigen; er zerreißt oft einen großen Teil des kunstvollen Netzes,
und wenn's gut geht, entkommt er schließlich seinen Fesseln noch im letzte::
Moment.
Wir Menschen freilich brauchen uns vor dem Biß weder der Kreuzspinne
noch irgendeiner ihrer heimischen Verwandten zu fürchten. Ich glaube,
die Redensart: „giftig wie eine Spinne" ist nicht bei uns entstanden, sondern
in südlicheren Ländern, wo es allerdings manche Arten gibt, deren Biß selbst
den Menschen recht schmerzhaft verletzen kann, wenn er ihm auch nicht gerade
tödlich wird.