Full text: [Teil 3, [Schülerband]] (Teil 3, [Schülerband])

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111. Die Morgenröte. 
Job. Gottfr. Herder. 
Hast du die schöne Morgenröte gesehen ? Sie leuchtet hervor 
aus Gottes Gemach, ein Strahl des unvergänglichen Lichts, die 
Trösterin der Menschen. 
Als David einst, verfolgt von seinen Feinden, in einer schauer¬ 
lichen Nacht auf dem Hermonsberge saß, den trauervollsten 
seiner Psalmen spielend: „Löwen und Tiger brüllen um mein 
Ohr, der Bösen Rotte hat mich rings umgeben und ich seh’ keinen 
Helfer!“ siehe, da ging die Morgenröte auf. Mit glänzenden 
Augen sprang sie hervor, die frühgejagte Hindin, und hüpfte auf 
den Bergen und sprach zu ihm wie ein Engel auf den Hügeln: 
„Was grämst du dich, daß du verlassen seist? Ich riß hervor aus 
dunkler Nacht, aus grauenvoller Finsternis wird Morgen!“ 
Getröstet hing an ihrem Blick sein Auge, bis sie zur Sonne 
ward und Heil der Welt aufging mit ihren mächtigen Flügeln. 
Frohlockend wandten sich die Töne seines Gesangs, den er das 
Lied der Morgenröte nannte, der frühegejagten Hindin. 
Auch späterhin sang er oft diesen Psalm und dankte Gott 
für die Bedrängnisse, die er in früher Jugend überstand, und 
jedesmal kam mit dem Psalm ihm Morgenrot in seine dü¬ 
stere Seele. 
Tochter Gottes, heilige Morgenröte, du blickst täglich nieder 
und weihst den Himmel und die Welt —- weih’ täglich auch mein 
Herz zu deiner stillen Wohnung! 
112. Weingefäße. 
Job. Gottfr. Herder. 
Eines Kaisers Tochter sprach zu einem Weisen: „Wie eine 
große Geschicklichkeit ist in dir und du bist so häßlich! Wie eine so 
große Weisheit in einem so schlechten Gefäß!" 
„Sage mir," sprach der Weise, „in welchen Fässern habt ihr 
euren Wein liegen?" „In irdenen," sagte sie. „Und seid so reich! 
Bitte deinen Vater, daß er den Wein in silberne Fässer lege!" Sie 
tat's und der Wein ward Essig. 
„Warum hast du meine Tochter zu solcher Torheit vermocht?" 
fragte der Kaiser. Der Weise sagte ihm die Veranlassung und be¬ 
hauptete, daß in einem und demselben Menschen Weisheit itnb 
Schönheit selten beisammen wohnen. 
„Ei," sagte der Kaiser, „es gibt doch auch schöne Menschen, 
die gelehrt und gescheit sind!" „Wenn sie nicht schön wären, wären 
sie wahrscheinlich gelehrter und gescheiter. Ein schöner Mensch ist 
selten demütig! er denkt an sich und vergißt darüber das Lernen."
	        
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