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8. Frühling.
Von W. v. Goethe (1749-1832).
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden
Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück.
Der alte Winter in seiner Schwäche
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sich mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn;
Denn sie sind selber auferstanden.
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straße quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen.
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel.
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!
9. Am See.
Nach H. Masius (1818—1893).
Es bricht der Frühling aus allen Hecken und Winkeln unaufhaltsam
hervor. Der Himmel hängt voll Lerchenklang; aus dem Acker steigt der
alte Erdatem heilend, nährend, verjüngend, und am Wasser sprießt und
keimt es allerorten. Den umgestürzten Weidenstämmen, die dort schon
jahrelang in den See hängen, fährt es durchs morsche Mark, und sie treiben
neue Reiser, und aus den saftstrotzenden Ruten zupft die Sonne lange
Blütenschäfchen. Auch das Röhricht steckt seine Fahnen auf. Die Erd¬
gänge und Uferhöhlen — der Winter hatte sie alle vermauert — kleiden
ihre Schwellen mit Moos, und manche grüne Ranke kriecht herbei. Wenn
der Himmel sich einmal verdunkelt, dann sprühen Frühlingsregen. Aber
die Lerchen singen unverdrossen weiter, die Sonne blitzt in die Tropfen,
die lustige Blasen auf den See werfen. Die Frösche knarren behaglich;
denn sie wissen nicht, daß mit den Sommerlüften auch der Storch gekommen
ist, der alte Sumpfkönig aus Ägyptenland. Alles liegt in Duft, still und
erwartend; ein ahnungsvoller, fast wehmütiger Hauch weht über die Erde.
Wie schön stimmt zu diesem träumerischen Frieden dort das stille Dorf
und hier vorn, wo das Erlengebüsch schon dichter schimmert, die alte,
strohgedeckte Fischerhütte! Sie ist malerisch mit Netzen staffiert, und aus
dem Schornstein spinnt ein dünner Rauchsaden hinauf. Der Kahn liegt
im Rohre versteckt, der alte Irin sitzt auf der Schwelle und bessert Reusen,
indessen er dem Enkel von der Nixe und ihren Tücken erzählt. Aber
der hat die Augen auf dem See, und bald hat auch der Alte seine Mär
vergessen; denn hoch über dem See schwingt sich in großen Kreisen der
Wanderfalke. Jetzt hängt er regungslos mit ausgespannten Flügeln in
der Höhe wie angenagelt; aber plötzlich schießt er steilrecht herab. Es