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borstigen, langen Fühler vorstreckend, an Baumstämmen und Gemäuer umher, wo¬
gegen vorzugsweise auf stehenden Gewässern schmalleibige, ungemein lang- und
dünnbeinige Wasserläufer (Hydrometra) sich tummeln und in rutschender Bewegung
wie stümperhafte Schlittschuhläufer dahingleiten.
Nicht bloß die vollkommenen Insekten feiern Frühling, auch die unvollkommenen,
die Larven nehmen an der Feier teil, natürlich in ihrer Weise. Die Raupen einer
Menge von Schmetterlingen, besonders aus der Abteilung der Eulchen, kriechen
aus ihren Verstecken hervor und — fressen; einen manierlicheren Ausdruck darf
man wahrlich nicht gebrauchen, wenn man von der Ernährungsweise dieser Tiere
spricht. Hast du es zu der Jahreszeit, von der hier die Rede ist, noch nicht bemerkt,
so wundere dich nicht darüber; denn sie tun es nur des Nachts, und du müßtest
einen eifrigen Raupensammler begleiten, der sie mit der Laterne sucht, ein Ver¬
gnügen, welches du mit ihm, namentlich zu jetziger Jahreszeit, schwerlich teilen
möchtest.
53. Der Regenwurm.
Julius Stinde, Aus der geheimen Werkstatt der Natur. Leipzig 1880. Teil 1. S. 30ff.
Zu den übelbeleumundeten Geschöpfen gehört immer noch der Regenwurm,
allein nachdem allerlei Intimes aus seinem Nachtleben ermittelt worden ist, wird
die Welt über ihn auch besser denken und milder urteilen lernen als bisher.
Man war nämlich — ich bitte auf das „Man" zu achten — bis vor etlicher
Zeit immer noch nicht im klaren darüber, ob der Regenwurm ein nützliches oder
schädliches Geschöpf sei. Die Jungen, welche für die Sonntagsangler die sogenannten
Pieresel suchen und dieselben an die Herren Kunstfischer verkaufen, sind natürlich
der Meinung, daß der Regenwurm, weil ein kleines Verdiensichen einbringend, eine
sehr nützliche Kreatur sei. Madame Soundso, deren schöner Blumenstock elendiglich
zu Grunde ging, weil Regenwürmer in dem Topf saßen, hält diese Wesen für
verabscheuungswürdig und schädlich. Freilich behauptet Herr Soundso, seine liebe
Gattin habe den verkommenen Blumenstock bald zu reichlich und bald gar nicht
begossen, aber Madame hat ihrem Eheliebsten die drei Regenwürmer, welche sie
unter den Wurzeln des Dahingeschiedenen entdeckte, mit einem sehr ernsten Blick
dicht vor das Antlitz gehalten und gefragt: „Sind das etwa Regenwürmer oder
nicht?" daß der friedfertige Gatte das Gegenteil nicht zu behaupten wagte. Somit
war die Schädlichkeit des Regenwurms erwiesen, wenn auch, wie wir leider gestehen
müssen, mehr mit einer auf dem Gefühl basierenden vorgefaßten Meinung als mit
logischen Gründen, welche auf die Beobachtung zurückführten, die korrekter hätte
sein können. Denn wenn auch etliche Regenwürmer unter den Wurzeln eines zu
Grunde gegangenen Gewächses sitzen, so ist damit doch noch nicht gesagt, daß sie
dasselbe auch wirklich ruiniert haben. Es ist schon mancher unschuldig verurteilt
worden, weil er zufällig an dem Orte des Verbrechens angetroffen würde, und
daher ist vom rein rechtlichen Standpunkte aus wünschenswert, daß dem übel¬