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auch die Sitte einen findenden ersten Akt, aus dem alle nachfolgenden hergeleitet werden,
auf den zurück sie sich beziehen.. Die Dauer der Gemeinschaft legte hernach eine Menge
von Abänderungen aus.
Den Stand der Sprache im ersten Zeitraum kann man keinen paradiesischen nennen
in dem gewöhnlich mit diesem Ausdruck verknüpften Sinn irdischer Vollkommenheit; denn
sie durchlebt fast ein Pflanzenleben, in dem hohe Gaben des Geistes noch schlummern
oder nur halb erwacht sind. Ihre Schilderung darf ich etwa in folgende Züge zusammen¬
fassen.
Ihr Auftreten ist einfach, kunstlos, voll Leben, wie das Blut in jugendlichem Leib
raschen Umlauf hat. Alle Wörter sind kurz, einsilbig, fast nur mit kurzen Vokalen und
einfachen Konsonanten gebildet, der Wortvorrat drängt sich schnell und dicht wie Halme
des Grases. Alle Begriffe gehn hervor aus sinnlicher, ungetrübter Anschauung, die selbst
schon ein Gedanke war, der nach allen Seiten hin leichte und neue Gedanken entsteigen.
Die Verhältnisse der Wörter und Vorstellungen sind naiv und frisch, aber ungeschmückt
durch nachfolgende, noch unangereihte Wörter ausgedrückt. Mit jedem Schritt, den sie
tut, entfaltet die geschwätzige Sprache Fülle und Befähigung, aber sie wirkt im ganzen
ohne Maß und Einklang. Ihre Gedanken haben nichts Bleibendes, Stetiges, darum
stiftet diese früheste Sprache noch keine Denkmale des Geistes und verhallt wie das glückliche
Leben jener ältesten Menschen ohne Spur in der Geschichte. Zahlloser Same ist in den
Boden gefallen, der die andere Periode vorbereitet.
In dieser haben alle Lautgesetze sich vervielfacht und glänzend aufgetan. Aus pracht¬
vollen Diphthongen und ihrer Ermäßigung zu Vokallängen entspringt neben der noch
waltenden Fülle der kurzen wohllautender Wechsel; auf solche Weise rücken auch Konsonanten,
nicht mehr überall durch Vokale gesondert, aneinander und steigen Kraft und Gewalt
des Ausdrucks. Wie aber die einzelnen Laute sich fester schließen, beginnen Partikeln
und Auxiliäre näher anzurücken, und indem sich der ihnen selbst einwohnende Sinn all¬
mählich abschwächt, mit dem Wort, das sie bestimmen sollten, sich zu einigen. Statt der
bei verminderter Sinneskraft der Sprache schwer überschaulichen Sonderbegriffe und un¬
absehbaren Wortreihen ergeben sich wohltätige Anhäufungen und Ruhepunkte, welche das
Wesentliche aus dem Zufälligen, das Waltende aus dem Untergeordneten vortreten lassen.
Die Wörter sind länger geworden und vielsilbig, aus der losen Ordnung bilden sich nun
Massen der Zusammensetzung. Wie die einzelnen Vokale in Doppellaute, drängten die
einzelnen Wörter sich in Flexionen, und wie der doppelte Vokal in dichter Verengung,
wurden auch die Flexionenbestandteile unkenntlich, aber desto anwendbarer. Zu fühllos
gediehenen Anhängen gesellen sich neue deutlicher bleibende. Die gesamte Sprache ist
zwar noch sinnlich reich, aber mächtiger an Gedanken und allem, was diese knüpft; die
Geschmeidigkeit der Flexion sichert einen wuchernden Vorrat lebendiger und geregelter
Ausdrücke. Um diese Zeit sehen wir die Sprache für Metrum und Poesie, denen Schön¬
heit, Wohllaut und Wechsel der Form unerläßlich sind, aufs höchste geeignet, und die
indische und griechische Poesie bezeichnen uns einen im rechten Augenblick erreichten, später
unerreichbaren Gipfel in unsterblichen Werken.
Da nun aber die ganze Natur des Menschen, folglich auch die Sprache dennoch in
ewigem, unaufhaltbarem Aufschwung begriffen sind, konnte das Gesetz dieser zweiten Periode
der Sprachentwicklung nicht für immer genügen, sondern mußte dem Streben nach einer
noch größeren Ungebundenheit des Gedankens weichen, welchem sogar durch die Anmut
und Macht einer vollendeten Form Fessel angelegt schien. Mit welcher Gewalt auch in
den Chören der Tragiker oder in Pindars Oden Worte und Gedanken sich verschlingen,