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35. Die Epoche der Reformation.
Leopold von Ranke,
Über die Epochen der neueren Geschichtet Leipzig 1899. S. 82ff.
Eines der Hauptereignisse, durch welche die moderne Welt bestimmt wurde, waren
die Entdeckungen, welche in genauem Zusammenhang mit demjenigen stehen, was in der
Zeit des Mittelalters geschehen war. Der faktische Gegensatz, der sie hervorgebracht, war
der Widerstreit zwischen den abendländischen Nationen und dem Morgenlande. Spanien
war noch immer in dem Streite mit den Mauren begriffen und konnte sie erst im Jahre
1492 vollständig besiegen. Das Gleiche war in Portugal der Fall; und indem beide
die Mauren weiterbekämpften, stießen sie in Afrika auf ein nicht zu überwältigendes
Element. An der Westküste von Afrika, so ging die Sage, hause ein christlicher Fürst,
der jenseit der mohammedanischen Welt zu suchen sei: eine mythische Idee, welche sich an
die Überbleibsel nestorianischer Christen in Afrika knüpfte. Dazu kam, daß man gerade
damals einige Versuche machte, die Mongolen im entferntesten Osten zum Christentum
zu bekehren, und daß man dort gleichfalls von einem mystischen christlichen Reiche sprach.
Die Portugiesen wollten das Reich des Priesters Johann aufsuchen, um mit ihm vereint
von da aus den Mauren in den Rücken zu fallen, und während sie diese Versuche machten,
umschifften sie das Vorgebirge der guten Hoffnung und entdeckten zwar nicht den Priester
Johann, aber Ostindien, wo sie in fortwährenden Kämpfen mit den Mohammedanern
das große portugiesisch-ostindische Reich gründeten. Dies war ein unendlich wichtiges
Ereignis, indem sich nunmehr die Welt auf eine ganz andere Weise eröffnete, als man
bisher im Abendlande gedacht hatte. Etwas Ähnliches war es, was Kolumbus zur Ent¬
deckung von Amerika führte. Auch er glaubte, er würde, wenn er immer nach Westen
segelte, nach Asien kommen, nach dem Lande Catai, dem Sina des Marco Polo, von wo
aus man die Mohammedaner besser werde bekämpfen können. Übrigens lebte er in lauter
geistlichen Ideen und hatte keine Ahnung von einem ungeheuren Kontinent, der gleichsam
in der Halbscheid des westlichen Weltmeeres liege.
Indem das Abendland durch das Vordringen der Türken aus den engsten Umkreis
von Gebiet beschränkt wurde, den es jemals gehabt hat — freilich einen Umkreis, der
voll von Leben war —, wurde ihm durch die abenteuerlichen Unternehmungen von ein
paar Seefahrern, die obendrein nicht recht wußten, was sie wollten, die aber gerade
durch jene Einschränkung veranlaßt waren, sie zu durchbrechen, eine neue, eine doppelte
Welt im Orient und Okzident erschlossen. Kolumbus, indem er auf den Antillen landete,
glaubte, er werde dort Gold und Silber finden, um die Mohammedaner zu bekämpfen
und das gelobte Land zu erobern. Niemals hat ein großartiger Irrtum eine gro߬
artigere Entdeckung hervorgebracht. Die Spanier und Portugiesen umfuhren wetteifernd
die ganzen Festlande. Schon im 16. Jahrhundert kam man auf den Gedanken, daß
Amerika ein- neuer Kontinent sei. Die Portugiesen machten in Brasilien neue Ent¬
deckungen und kamen sogar nach Nordamerika (Labrador), wodurch sie auf die Idee kamen,
daß Nord- und Südamerika zusammenhängen, was den Spaniern entgangen war. Indessen
setzten sich die Spanier nach und nach in den Besitz der neu entdeckten Länder und fingen
zu kolonisieren an, und mit der Zeit, da in Portugal das regierende Haus ausstarb,
bekam Philipp II. auch Portugal und die portugiesischen Kolonien, so daß die damaligen
Herrscher in Spanien sagen konnten, in ihrem Lande gehe die Sonne nie unter. Durch
alles dieses wurde der Welt ein neuer Schauplatz der Tätigkeit eröffnet, aber nur er-