Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

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Ostrumelien verzichtet hatte, indem es die mäßige Satisfaktion gab, die Grenze des seinem 
Einflüsse anheim fallenden Gebietes um 800000 Seelen auf 3 Millionen ungefähr 
zurückzuschrauben. Infolge dieser Auffassung des Kongresses hat Rußland bis 1885 
zunächst den Fürsten ernannt, einen nahen Verwandten des Kaiserhauses, von dem damals 
niemand annahm und annehmen konnte, daß er etwas anderes würde sein wollen als ein 
getreuer Anhänger der russischen Politik. Es hat die Kriegsminister, einen großen Teil 
der Offiziere ernannt, kurz und gut, es hat in Bulgarien geherrscht; da ist gar kein 
Zweifel daran. Die Bulgaren oder ein Teil von ihnen oder der Fürst — ich weiß nicht, 
wer — sind nicht damit zufrieden gewesen, es hat ein Staatsstreich, ein Abfall von 
Rußland stattgefunden. Dadurch ist ein faktisches Verhältnis entstanden, welches wir mit 
Gewalt der Waffen zu remedieren keinen Beruf haben, welches aber die Rechte, die Ru߬ 
land aus dem Kongreß nach Hause gebracht hat, doch theoretisch nicht alterieren kann. 
Db, wenn Rußland diese Rechte gewaltsam geltend machen wollte, sich daran Schwierig¬ 
keiten knüpfen würden, das weiß ich nicht, das geht uns auch nichts an. Wir werden 
gewaltsame Mittel nicht unterstützen und auch nicht dazu raten; ich glaube auch nicht, 
daß Neigung dazu da ist, — ich bin ziemlich gewiß, daß sie nicht vorhanden ist. Wenn 
aber Rußland aus diplomatischem Wege versucht, sei es auch durch eine Anregung auf 
das Einschreiten des Oberherrn von Bulgarien, des Sultans, wenn es versucht, das 
herbeizuführen, so halte ich es für die Aufgabe einer loyalen deutschen Politik, sich dabei 
rein an die Bestimmungen des Berliner Vertrags zu halten und an die Auslegung, die 
wir ihnen damals ganz ohne Ausnahme gegeben haben, und an der — mich wenigstens — 
die Stimmung der Bulgaren nicht irre machen kann. Bulgarien, das Ländchen zwischen 
Donau und Balkan, ist überhaupt kein Objekt von hinreichender Größe, um daran die 
Konsequenzen zu knüpfen, um seinetwillen Europa von Moskau bis an die Pyrenäen 
und von der Nordsee bis Palermo hin in einen Krieg zu stürzen, dessen Ausgang kein 
Mensch voraussehen kann; man würde am Ende nach dem Kriege kaum mehr wissen, 
warum man sich geschlagen hat. 
Also das kann ich erklären, daß die Unfreundlichkeiten, die wir in der russischen öffent¬ 
lichen Meinung, in der russischen Presse namentlich, erfahren haben, uns nicht abhalten 
werden, sobald Rußland den Wunsch ausspricht, die diplomatischen Schritte diplomatisch 
zu unterstützen, welche Rußland eben tun kann, um seinen Einfluß auf Bulgarien wieder 
zu gewinnen. Ich sage absichtlich: sobald Rußland den Wunsch ausspricht. Wir sind 
früher mitunter bemüht gewesen, russische Wünsche aus vertrauliche Andeutungen hin zu 
erfüllen; wir haben aber erleben müssen, daß russische Blätter sich fanden, die sofort 
nachzuweisen versuchten, daß gerade diese Schritte der deutschen Politik die feindseligsten 
gegen Rußland gewesen wären, und die uns deshalb angriffen, weil wir den russischen 
Wünschen vorausgegangen waren in der Erfüllung. Wir haben das auch auf dem 
Kongreß getan; es wird uns aber nicht wieder passieren. Wenn Rußland uns amtlich 
auffordert, die Schritte zur Herstellung der kongreßinäßigen Situation in Bulgarien beim 
Sultan als Souverän zu unterstützen, so trage ich kein Bedenken, Sr. Majestät dein Kaiser 
zu raten, daß das geschieht. Dies erfordern die Verträge von unserer Loyalität dem 
Nachbar gegenüber, mit dem wir, mag die Stimmung sein, wie sie will, doch immer das 
grenznachbarliche Verhältnis und große und gemeinsame monarchische Interessen, sowie 
Interessen der Ordnung allen Gegnern der Ordnung in Europa gegenüber zu vertreten 
haben, und dessen Monarch vollständiges Verständnis hat für diese Aufgabe der verbündeten 
Monarchen. Daß der Kaiser von Rußland, wenn er fiiibet, daß die Interessen seines 
großen Reiches von hundert Millionen Untertanen ihm gebieten, Krieg zu führen, daß
	        
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