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Man sagte uns Deutschen wohl nach, daß die Frauenverehrung bei uns weniger
entwickelt ist als bei anderen Völkern, mit denen wir gewohnt sind, uns zu messen; und
wir werden es Wohl einräumen müssen, daß wenigstens in den äußeren Formen dieser
Verehrung, was man Ritterlichkeit und Galanterie oder ähnlich benennt, wir noch heute
die Folgen der Barbarisierung des dreißigjährigen Krieges empfinden, und leider auch
einräumen müssen, daß die dehumanisierenden Tendenzen der heutigen Zeit unter unserem
Proletariat sowohl wie in den sogenannten besseren Kreisen ein neues Barbarentum gro߬
ziehen, dessen rechtes Wahrzeichen der Mangel an Ehrerbietung vor den Frauen ist.
Aber daß diese dennoch im tiefsten Innern unserer Nation wurzelt und auch, mit diesem
Maße gemessen, die Deutschen wenigstens der Empfindung, wenn auch nicht dem Ausdruck
nach zu den höchst civilisirten Völkern zählen, das zeigt nichts so deutlich als das Andenken
an die Iphigenie des Befreiungskrieges, an unsere Königin Luise.
'Wir reden von der Mutter am achtzigsten Geburtstag ihres Sohnes; und wir dürfen
es wohl. Denn wer gedenkt ihrer, ohne sich zugleich dieses ihres Sohnes zu erinnern,
und wer kennt nicht ihr in schwerster Bedrängnis gesprochenes weissagendes Wort, daß
sie nicht klagen wolle, in dieser Unglücksepoche gelebt zu haben: ihr Dasein sei dazu
bestimmt, Kindern das Leben zu geben, die einst zum Wohl der Menschheit beitragen
werden. Das Schicksal gibt keinem alles; die dieses Wort hörten, verstanden es nicht,
wir hören es nicht, aber wir haben sein Verständnis. Nur diesem Verständnis in Worten
Ausdruck geben dürfen wir zur Zeit nicht, wenigstens nicht an dieser Stelle. Es wäre
wohl möglich, fortfahrend zu zeigen, wie in diesem Fall nicht bloß der Segen, sondern
auch die Eigenart der Mutter auf dem Sohne ruht. Aber wir werden uns erinnern,
daß die Ausführung des Satzes „Wie die Mutter, so der Sohn" sich nicht mit der Stelle,
an der ich spreche, nicht mit den guten Traditionen unserer Körperschaft verträgt. Wir
feiern unsere Toten mit strenger Auswahl, und den Lebenden ins Gesicht zu loben, ist
nicht Herkommen der Akademie. Wir haben uns glücklicherweise frei gehalten von jener
gleißnerischen Form der obligaten Redeakte, in denen die notwendige Höflichkeit und die
aufrichtige Verehrung unter dem Firnis der alles zudeckenden Phrase in einander ver¬
schwimmen. Auch wenn wir den Geburtstag des regierenden Herrschers feiern, bleiben
wir dessen eingedenk, daß das Urteil über seine Persönlichkeit so im Lob wie im Tadel
nicht hierher gehört und die Ehrfurcht uns gebietet, nur von dem Herrscher als solchem,
nicht von der Persönlichkeit zu reden.
Diese Pflicht ist nicht immer leicht zu erfüllen. Es ist zum erstenmal, seit die
Akademie besteht, daß sie den achtzigsten Geburtstag des Herrschers begeht; und mehr
noch als die Zahl ist es der Inhalt dieser Lebensjahre, der zum Sprechen auffordert.
Die gewaltigen Ereignisse, welche das letzte Dezennium erfüllt haben, und welche an unseres
Herrschers Persönlichst ihren Mittelpunkt, in seinem Kaisertum ihren letzten Ausdruck
gesunden haben, werfen ihren Wellenschlag wie in die niedrigste Bauernhütte, so auch in
die gelehrteste Einsiedelei. Aber wenn es darum schwer wird zu schweigen, so dürfen
wir es um so eher. Es könnte ja doch bei diesem Fest keine Rede etwas anderes zum
Ausdruck bringen, als was jeder ohnehin empfindet. Dieses Lied klingt auch ohne Worte. . .