Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

— 14 — 
stehliche Kraft. Aber eine solche Lage konnte nicht dauernd bleiben; mit der Verschiebung 
der Verhältnisse aber mußte nach und nach eine innere Entfernung von jenem Abschluß 
eintreten und zugleich eine Differenz zwischen dem geschichtlich Gebotenen und dem innerlich 
Geforderten. Lange ließ sich solcher Abstand durch Kompromisse verschleiern, lange ver¬ 
mochten die alten Formen sich mit den neuen Bedürfnissen leidlich abzufinden. Aber es 
mußte ein Zeitpunkt kommen, wo die Spannung zu groß und der Bruch unvermeidlich 
wurde, ein neuer Lebensprozeß, ein neues Lebensgefühl seine eigene Art der Religion 
verlangte. So flach es ist, die religiöse Erneuerung direkt von nationalen Eigentümlich¬ 
keiten abzuteilen, es bleibt eine unbestreitbare Tatsache, daß die neuen, von dem antiken 
Leben minder abhängigen Völker es waren, bei denen die Reformation allein feste Wurzel 
geschlagen hat. Sie standen nicht am Ende ihrer Laufbahn wie die Griechen und Römer 
zur Zeit der Ausbildung des Dogmas und des Kirchensystems, sondern sie hatten ihre 
Zukunft noch vor sich; bei ihnen strebte eine frische Jugendkraft auf, die, lange genug 
von äußeren Aufgaben festgehalten, sich schließlich auch ins Innere wenden und dort in 
neuen Schöpfungen betätigen mußte. Durchweg wurde der Lebensprozeß bedeutsamer, 
Mut und Selbstvertrauen wuchsen mächtig, es galt jetzt, nicht sowohl der Welt zu entfliehen 
als sie dem Geist zu unterwerfen. Solchem Anschwellen des Lebens entspricht ein Wachs¬ 
tum der Bedeutung des Individuums, es fühlt sich stark genug, die Lebensarbeit selbständig 
auf sich zu nehmen, die Abhängigkeit von sichtbaren Gestaltungen abzuschütteln und direkt 
dem All entgegenzutreten, direkt mit dem Unsichtbaren zu verkehren. 
Das alles keimt und treibt schon innerhalb des Mittelalters, aber es muß sich noch 
an überlieferte autoritative Größen anranken, vermag sich noch nicht zu selbständiger 
Gestalt zu entwickeln. Dies wird anders gegen Ausgang des Mittelalters und mit dem 
Aufsteigen der Renaissance. Nun erwachen die Geister, die Lust nach eigener Bildung 
des Lebens schießt mächtig auf, freiere Gedanken von Gott und Welt, Überzeugungen von 
einem geistigen und göttlichen Leben auch jenseit der kirchlichen Form greifen um sich 
und geben den Gemütern die Stimmung eines nach langer Nacht durchbrechenden Morgens. 
Die Geschichte selbst muß solchem Aufschwung dienen. Von den matten und trüben 
Stimmungen des ausgehenden Altertums, die auf dem Mittelalter lagerten, greift die 
Renaissance zurück auf die frischere und lebensfrohere Art der klassischen Zeit und sieht 
in ihrem Licht die ganze Antike, mit ihrer Hilfe entfaltet sich jetzt eine künstlerische 
Lebensgestaltung, findet unendlich viel im Diesseits zu tun und widersteht einer form¬ 
scheuen Weltflucht. Auch große soziale Wandlungen treiben in neue Bahnen. Das 
feudale System ist innerlich gebrochen, ein mächtiges Bürgertum hat sich entwickelt, und 
mit ihm ist die Macht wie die Ehre bürgerlicher Arbeit gewachsen, noch breitere Schichten 
streben aufwärts und verlangen eine bessere Lebenshaltung. Das alles muß zu einer 
Umwandlung auch der letzten Überzeugungen wirken. 
Aber alles zusammen hätte von sich aus nun und nimmer eine Erneuerung und 
Kräftigung der Religion bewirkt; mit seiner Entwickelung menschlicher Kraft und menschlichen 
Selbstgefühls mußte es vielmehr von der Religion abführen; der Grundzug des modernen 
Lebens ist nicht religiös. Zu einer Wirkung konnte die Religion nur kommen, wenn 
eine durchaus von ihren Problemen beherrschte große Persönlichkeit auftrat, der das 
Verhältnis zu Gott alles war, und die in den dargebotenen kirchlichen Formen keinen 
Frieden für ihre Seele fand. Alsdann aber mußte ein eigentümlicher Konflikt, eine 
schwere Verwickelung entstehen. Jenes religiöse Verlangen gegen eine durch alle Kräfte 
der Autorität und Geschichte getragene Weltmacht durchzusetzen, war nur möglich mit 
Hilfe der neuen Art, mit ihren geistigen Mitteln, in der von ihr geschaffenen Atmosphäre. 
o
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.