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stehliche Kraft. Aber eine solche Lage konnte nicht dauernd bleiben; mit der Verschiebung
der Verhältnisse aber mußte nach und nach eine innere Entfernung von jenem Abschluß
eintreten und zugleich eine Differenz zwischen dem geschichtlich Gebotenen und dem innerlich
Geforderten. Lange ließ sich solcher Abstand durch Kompromisse verschleiern, lange ver¬
mochten die alten Formen sich mit den neuen Bedürfnissen leidlich abzufinden. Aber es
mußte ein Zeitpunkt kommen, wo die Spannung zu groß und der Bruch unvermeidlich
wurde, ein neuer Lebensprozeß, ein neues Lebensgefühl seine eigene Art der Religion
verlangte. So flach es ist, die religiöse Erneuerung direkt von nationalen Eigentümlich¬
keiten abzuteilen, es bleibt eine unbestreitbare Tatsache, daß die neuen, von dem antiken
Leben minder abhängigen Völker es waren, bei denen die Reformation allein feste Wurzel
geschlagen hat. Sie standen nicht am Ende ihrer Laufbahn wie die Griechen und Römer
zur Zeit der Ausbildung des Dogmas und des Kirchensystems, sondern sie hatten ihre
Zukunft noch vor sich; bei ihnen strebte eine frische Jugendkraft auf, die, lange genug
von äußeren Aufgaben festgehalten, sich schließlich auch ins Innere wenden und dort in
neuen Schöpfungen betätigen mußte. Durchweg wurde der Lebensprozeß bedeutsamer,
Mut und Selbstvertrauen wuchsen mächtig, es galt jetzt, nicht sowohl der Welt zu entfliehen
als sie dem Geist zu unterwerfen. Solchem Anschwellen des Lebens entspricht ein Wachs¬
tum der Bedeutung des Individuums, es fühlt sich stark genug, die Lebensarbeit selbständig
auf sich zu nehmen, die Abhängigkeit von sichtbaren Gestaltungen abzuschütteln und direkt
dem All entgegenzutreten, direkt mit dem Unsichtbaren zu verkehren.
Das alles keimt und treibt schon innerhalb des Mittelalters, aber es muß sich noch
an überlieferte autoritative Größen anranken, vermag sich noch nicht zu selbständiger
Gestalt zu entwickeln. Dies wird anders gegen Ausgang des Mittelalters und mit dem
Aufsteigen der Renaissance. Nun erwachen die Geister, die Lust nach eigener Bildung
des Lebens schießt mächtig auf, freiere Gedanken von Gott und Welt, Überzeugungen von
einem geistigen und göttlichen Leben auch jenseit der kirchlichen Form greifen um sich
und geben den Gemütern die Stimmung eines nach langer Nacht durchbrechenden Morgens.
Die Geschichte selbst muß solchem Aufschwung dienen. Von den matten und trüben
Stimmungen des ausgehenden Altertums, die auf dem Mittelalter lagerten, greift die
Renaissance zurück auf die frischere und lebensfrohere Art der klassischen Zeit und sieht
in ihrem Licht die ganze Antike, mit ihrer Hilfe entfaltet sich jetzt eine künstlerische
Lebensgestaltung, findet unendlich viel im Diesseits zu tun und widersteht einer form¬
scheuen Weltflucht. Auch große soziale Wandlungen treiben in neue Bahnen. Das
feudale System ist innerlich gebrochen, ein mächtiges Bürgertum hat sich entwickelt, und
mit ihm ist die Macht wie die Ehre bürgerlicher Arbeit gewachsen, noch breitere Schichten
streben aufwärts und verlangen eine bessere Lebenshaltung. Das alles muß zu einer
Umwandlung auch der letzten Überzeugungen wirken.
Aber alles zusammen hätte von sich aus nun und nimmer eine Erneuerung und
Kräftigung der Religion bewirkt; mit seiner Entwickelung menschlicher Kraft und menschlichen
Selbstgefühls mußte es vielmehr von der Religion abführen; der Grundzug des modernen
Lebens ist nicht religiös. Zu einer Wirkung konnte die Religion nur kommen, wenn
eine durchaus von ihren Problemen beherrschte große Persönlichkeit auftrat, der das
Verhältnis zu Gott alles war, und die in den dargebotenen kirchlichen Formen keinen
Frieden für ihre Seele fand. Alsdann aber mußte ein eigentümlicher Konflikt, eine
schwere Verwickelung entstehen. Jenes religiöse Verlangen gegen eine durch alle Kräfte
der Autorität und Geschichte getragene Weltmacht durchzusetzen, war nur möglich mit
Hilfe der neuen Art, mit ihren geistigen Mitteln, in der von ihr geschaffenen Atmosphäre.
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