Unsere Kaiserin.
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Als nun die beiden Spaziergängerinnen die Not der armen Frau
gewahr wurden, warfen sie sich einen Blick zu, als wollten sie sagen:
«Wozu sind wir denn unserer zwei und jung dazu und haben kräftige
Arme?" And ehe die Alte noch recht wußte, wie ihr geschah, wurde
auf einmal ihre Karre von jugendlichen Armen den Berg hinausgeschoben
oben auf die Äöhe. Vergebens mühte sich die alte Frau, schnell
hinterdrein zu kommen; denn ihr Auge hatte wohl erkannt, wer
ihr da so unerwartet zu Äilse gekommen war. Als sie aber endlich
oben angelangt war und ihren Dank abstatten wollte, waren die beiden
freundlichen Helferinnen schon längst verschwunden.
Äermann Petrich.
3. Als unsere Kaiserin einst in ihrem Heimatlande Schleswig-
Holstein weilte, besuchte sie auch das Ostseestädtchen Eckernförde. Auf
dem Bahnhöfe des Städtchens war ihr ein festlicher Empfang bereitet,
and ein Mägdlein war auserkoren, ihr eine Blumenspende und ein
Willkommen entgegen zu tragen. Wohleinstudiert ist das schöne Gedicht,
^etzt hält der Zug. Im Empfangszimmer steht die Kaiserin, vor ihr
steht das Kind mit dem Blumensträuße in der Hand. Aber die Kaiserin
muß wohl auch in den Augen des Mägdleins eine große Majestät ge¬
wesen sein; denn als nun das Kind seine Verse hersagen soll, da bleibt
das Wort in der Kehle stecken und will nimmer heraus. Nur der
Blumenstrauß hält eine stumme Rede vor der Kaiserin, die Kindes¬
augen aber sehen ängstlich zu Boden und blicken um sich und finden
doch kein einziges Wörtlein. Da neigt sich die Kaiserin zu dem Mägd¬
lein, nimmt ihm den Blumenstrauß aus der Land und spricht in freund¬
lichem Tone: „Ei, den schönen Blumenstrauß willst du mir schenken?
^ So will ich dir — das Gedicht schenken." And sie streichelt dem
^inde die glühende Wange. Ernst Eduard Evers.
4. Als unsere Kaiserin noch als Prinzessin Wilhelm in Potsdam
lebte, bewegte sie sich gern in den Straßen der Stadt und machte häufig
persönlich Einkäufe. Einst besuchte sie am Sonnabend vor Ostern ein
^oschästslokal in der Nauenerstraße. Der königliche Wagen hatte die
Aufmerksamkeit der Jugend erregt, und bald war er von den Kindern
dicht umringt. Die Kleinen richteten verstohlene Blicke in den Laden.
Die Prinzessin aber merkte das wohl. Bald erschien sie mit einer
großen Tüte Ostereier unter der Jugend und begann den Inhalt an
die überraschten Kinder zu verteilen. Als die Prinzessin in jede Hand
^iu Ei gedrückt hatte, sagte sie: „Wer hat nun noch kein Ei?" Da
Lesebuch für höhere Mädchenschulen. II. 8