Lorenzen: Krank.
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Vater und Mutter kurz nacheinander gestorben waren und ihn allein
zurückgelassen hatten. Wohl war's ihm schwer ums Herz geworden,
den Ort zu verlassen, wo er aufgewachsen war und alle Leute ihn
kannten — aber er war doch stolz gewesen, als er nun in der
Nachbarstadt in dem großen Geschäft Arbeit gefunden hatte. Mit
dem Tagelohn von 2,50 Mark kam er aus, hatte er doch bloß für
Essen und Wohnung zu sorgen: eine schmucke Uniform lieferte
ihm die Firma. Ja, er war ganz zufrieden.
Eines Tages hatte er ein Paket draußen hinaus vor die
Stadt zu bringen. Die Straße war steil. Dazu pfiff ihm der
scharfe Ostwind entgegen. Es war fast unmöglich, mit dem Rad
voranzukommen. Sollte er absteigen und es schieben? Das war
seiner Ehre zu nahe. Auch hatte der Geschäftsführer gesagt, er
müsse sich beeilen. Deshalb wollte er doch zum Feierabend wieder
zurück sein. So trat er denn mit voller Kraft die Pedale. Und
es glückte; er lieferte sein Paket ab und sauste nachher mit dem
Winde die abschüssige Straße hinab nach Hause. „Es freut mich,
Gehrmann, daß man sich auf Sie verlassen kann,“ hatte der Geschäfts—
führer gesagt.
Walter war noch ganz froh nach Hause gegangen. In der
Nacht wachte er auf. Sein Kopf brannte wie Feuer und war ihm
so schwer. Auch der Hals schmerzte. Er dachte: morgen früh wird's
schon besser sein. Aber als er dann ausstand, fühlte er sich durch—
aus nicht wohler. Nur mit Mühe würgte er sein Brot nieder.
Als seine Wirtin das sah und sich erkundigte, ob er auch krank
sei, meinte sie: das hätte der schneidende Ostwind verschuldet,
und es sei leichtsinnig von ihm gewesen, daß er nicht abgestiegen
wäre und das Rad geschoben habe. Er solle nur im Hause bleiben;
sie wolle ihm einen nassen Umschlag um den Hals legen und
dann im Geschäft Bescheid sagen. Aber Walter hatte noch nie
nie eine Stunde gefehlt und wollte heute auch am Platze sein.
Als er dann am Mittag aber wiederkam und gar nicht mehr
schlucken konnte, da mußte er im Hause bleiben. Die Wirtin lief
zum Kassenarzt. Als er Walters Hals untersucht hatte, machte
er ein ernstes Gesicht und sagte: „Sie haben Diphtheritis. Am
besten wird's wohl sein, daß Sie ins Krankenhaus gehen.“
„Kann ich nicht hierbleiben, Herr Doktor?“
„Ja,“ meinte der, „überlegen Sie sich's nur mal. Was ver—
dienen Sie denn?“ Und als Walter es ihm gesagt hatte, sprach er:
„Nun, da rechnen Sie selbst aus; Sie bekommen als Krankengeld die
Hälfte vom Tagelohn. Die ersten Tage gibt's nichts, Sonntags
auch nicht. Nachher gibt's zwölf und einen halben Groschen.
Zwei Mark zahlen Sie an Ihre Wirtin. Sie werden kaum er—