Full text: [Band 1, [Schülerband]] (Band 1, [Schülerband])

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58. Wodan. 
Als ihren höchsten Gott verehrten die alten Deutschen den Wodan, 
der Götter und Menschen Vater, dessen Walten die Erde dnrchdrang. Er 
thronte in der goldstrahlenden Burg Walhalla, ernst und sinnend, voll 
göttlicher Hoheit. Graues Haar fiel ihm vom Haupte auf die Schultern 
nieder; sein langer, weißer Bart wallte auf die Brust herab. Nur ein 
Auge hatte Wodan, aber es strahlte wie die helle Sonne. Der Gott war 
angetan mit Goldhelm, Brünne (Brustharnisch) und Schwert; sein un¬ 
widerstehlicher Speer lehnte an seinem goldenen Stuhle. Auf seinen 
Schultern saßen zwei Raben namens Hugin und Munin, d. h. Gedanke 
und Erinnerung; die sendete der Allvater täglich aus über die ganze Erde, 
und was sie erspäht hatten, raunten sie ihm ins Ohr. Zu seinen Füßen 
kauerten zwei ungeheuere Wölfe. Ihnen warf Wodan die Speise hin, 
die man ihm vorsetzte; denn er selbst bedurfte keiner Nahrung. Von 
seinem goldenen Hochsitze übersah er die ganze Welt, von hier aus lenkte 
er das Schicksal der Menschen und aller Dinge. 
Würdig geziert war des Weltherrschers Halle. Speerschäfte und 
Schilde bildeten das Dach, das Innere schmückten glänzende Panzer. 
Lautes, fröhliches Treiben herrschte in dem weiten Raume. Da saßen 
an langen Tischen mit den Göttern vereint die gefallenen Helden, Antlitz 
und Brust von tiefen Narben durchfurcht, und pflogen heitere Gespräche. 
Wunderschöne Jungfrauen, die Walküren, kredenzten [reichten] ihnen 
in goldenen Schalen und großen Trinkhörnern feurigen Met und schäu¬ 
mendes Bier. Ein gesottener 'Eber ward zur Mahlzeit aufgetragen; doch 
soviel auch Übertags von seinem Fleische abgeschnitten werden mochte, 
am Abend war er wieder heil und unversehrt. So feierten die Helden 
in Heervaters Halle Tag für Tag fröhliches Gelage oder sie führten 
zur Kurzweil Kämpfe und Waffenübungen aus. Manchmal erhob sich 
der furchtbare Wodan von seinem Throne; er legte den blauen, .stern¬ 
besäten Mantel an, setzte sich den breitrandigen Wolkenhut tief ins Ge¬ 
sicht, bestieg seinen schneeweißen, raschen Hengst und schwang seinen 
Jagdspeer; dann folgten ihm zu Pferd alle seine tapfern Tischgenossen. 
Brausend fuhr der Geisterzug durch die Lüfte, besonders in den zwölf 
Nächten von Weihnachten bis zum Dreikönigstage. Zitternd hörten die 
Menschen den Hufschlag und das Hundegebell, das Hurra nnd Hussa 
der wilden Jagd; denn sie deuteten es auf Krieg und Verderben. 
Wenn aber auf Erden eine Schlacht tobte, so sendete Wodan seine Wal¬ 
küren aus; die ritten auf schneeweißen Rossen zur Walstatt, hoben die 
sterbenden Helden aufs Pferd und trugen sie hinauf nach Walhalla. Am 
Tor empfing sie die holdlächelnde Freia, die Göttin der Liebe; Wodan 
ließ ihnen den Willkommenstrunk reichen und nahm sie in die Schar 
seiner Getreuen auf. > ; 
H. von Dadelsen. Deutsches Lesebuch f. höh. Schulen. Straßb. 1894-. T II. S. 18 f. 
Vgl. Wiskott (Breslau), Schul-Wandbild: Odin; Lohmeyer, Wandbilder z. 
deutsch. Mythol. Nr. 11 u. III3 (Odin, Walhalls Wonnen); Breitkopf u. Härtel, Zeit- 
genöss. Kunstblätter Nr. 51 (Hans Thoma, Wodan).
	        
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