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war mir ganz eigen zu Mute, als ich so allein hoch oben auf dem Berge
stand. Es war eine stockdunkle Nacht, kein Stern am Himmel, und die
ganze Welt war wie tot; nur weit unten zog sich der Rhein wie ein blasser
Streifen hin, und man hörte sein Rauschen, von dem man bei Tage keinen
Laut vernimmt. Mir ist es vorgekommen, als ob die ganze Welt aus—
gestorben und ich allein da oben übrig geblieben wäre — man kommt doch
oft auf sonderbare Gedanken, aber man kann nichts dafür — da höre ich
das Feldgeschrei, wodurch die Posten einander wach erhalten. Ich habe doch
den Zuruf schon oft und oft gehört, aber diesmal hat er mich ganz besonders
ergriffen. Zuerst habe ich ihn aus weiter Ferne vernommen, dann immer
näher und näher und heller und heller: „Kamerad, bist du noch da?“ bis
es zuletzt an mich gekommen ist, und ich habe den Ruf weiter geschickt:
„Bruder, bist du noch da?“ Keiner sieht den anderen, keiner verläßt seinen
Posten, aber man ruft einander den hellen, ermunternden Gruß zu. Das
ist schön. Eine Kette von freundlichen Worten, Glied an Glied, schließt die
deutschen Brüder aneinander, die weit auseinander stehen. Alle sind wach
und stehen da für das Vaterland. Und ich habe mir da ganz Deutschland
gedacht, und von einer Grenze bis zur anderen stehen sie da und rufen ein—
ander zu „Bruder, bist du noch da Vater lieber Vater! da ist mir's
warm ums Herz geworden, ich kann's nicht sagen, wie. Und ich habe mein
Gewehr mit beiden Händen hoch hinaufgehoben und habe Gott gebeten, er soll
mir's einmal für eine rechtschaffene, heilige Sache wieder in die Hand geben.
Die zwei Stunden sind mir herumgegangen wie ein Augenblick, und so
oft der Ruf an mich gekommen ist, habe ich ihn immer freudiger hinaus—
gerufen. Dazwischen habe ich das Lied in mich hineingesungen: Steh ich
in finstrer Mitternacht so einsam auf der fernen Wacht. — Wenn man so ein
Lied auch nur leise vor sich hinsingt, ist es doch gerade, als ob man mit
einem guten Geist spräche.
Grüßet mir alle guten Freunde und Bekannten, besonders auch unseren
Vetter Johann und seine Tochter Anna Margarete von
Euerm
getreuen Franz.
B. Auerxbach.
192. Die Reichsverfassung.
Das Reich ist gegründet zum Schutze des Reichsgebietes und zur Pflege
der Wohlfahrt des gesamten deutschen Volkes. Die hieraus sich ergebenden
gemeinschaftlichen Aufgaben, deren Erfüllung dem Deutschen Reiche zu—
steht, sind in der Reichsverfassung bezeichnet. Dazu gehört namentlich das
Militär und die Marine, die auswärtige Vertretung, der Schutz des deutschen
Handels, Zollwesen, Heimats- und Niederlassungswesen, Post und Telegraph,
Ordnung des Eisenbahnwesens im Intexesse des allgemeinen Verkehrs, Münz-
Maß- und Gewichtswesen, die Ordnung des Strafrechts und bürgerlichen
Rechts sowie des Verfahrens vor den Gerichten. Auf den meisten dieser
Gebiete hat das Reich die erforderlichen Gesetze zu erlassen, während der
Vollzug den Landesregierungen und ihren Behörden zusteht; nur in wenigen