Full text: Lehr- und Lesebuch für ländliche Fortbildungs- und Winterschulen

210 
war mir ganz eigen zu Mute, als ich so allein hoch oben auf dem Berge 
stand. Es war eine stockdunkle Nacht, kein Stern am Himmel, und die 
ganze Welt war wie tot; nur weit unten zog sich der Rhein wie ein blasser 
Streifen hin, und man hörte sein Rauschen, von dem man bei Tage keinen 
Laut vernimmt. Mir ist es vorgekommen, als ob die ganze Welt aus— 
gestorben und ich allein da oben übrig geblieben wäre — man kommt doch 
oft auf sonderbare Gedanken, aber man kann nichts dafür — da höre ich 
das Feldgeschrei, wodurch die Posten einander wach erhalten. Ich habe doch 
den Zuruf schon oft und oft gehört, aber diesmal hat er mich ganz besonders 
ergriffen. Zuerst habe ich ihn aus weiter Ferne vernommen, dann immer 
näher und näher und heller und heller: „Kamerad, bist du noch da?“ bis 
es zuletzt an mich gekommen ist, und ich habe den Ruf weiter geschickt: 
„Bruder, bist du noch da?“ Keiner sieht den anderen, keiner verläßt seinen 
Posten, aber man ruft einander den hellen, ermunternden Gruß zu. Das 
ist schön. Eine Kette von freundlichen Worten, Glied an Glied, schließt die 
deutschen Brüder aneinander, die weit auseinander stehen. Alle sind wach 
und stehen da für das Vaterland. Und ich habe mir da ganz Deutschland 
gedacht, und von einer Grenze bis zur anderen stehen sie da und rufen ein— 
ander zu „Bruder, bist du noch da Vater lieber Vater! da ist mir's 
warm ums Herz geworden, ich kann's nicht sagen, wie. Und ich habe mein 
Gewehr mit beiden Händen hoch hinaufgehoben und habe Gott gebeten, er soll 
mir's einmal für eine rechtschaffene, heilige Sache wieder in die Hand geben. 
Die zwei Stunden sind mir herumgegangen wie ein Augenblick, und so 
oft der Ruf an mich gekommen ist, habe ich ihn immer freudiger hinaus— 
gerufen. Dazwischen habe ich das Lied in mich hineingesungen: Steh ich 
in finstrer Mitternacht so einsam auf der fernen Wacht. — Wenn man so ein 
Lied auch nur leise vor sich hinsingt, ist es doch gerade, als ob man mit 
einem guten Geist spräche. 
Grüßet mir alle guten Freunde und Bekannten, besonders auch unseren 
Vetter Johann und seine Tochter Anna Margarete von 
Euerm 
getreuen Franz. 
B. Auerxbach. 
192. Die Reichsverfassung. 
Das Reich ist gegründet zum Schutze des Reichsgebietes und zur Pflege 
der Wohlfahrt des gesamten deutschen Volkes. Die hieraus sich ergebenden 
gemeinschaftlichen Aufgaben, deren Erfüllung dem Deutschen Reiche zu— 
steht, sind in der Reichsverfassung bezeichnet. Dazu gehört namentlich das 
Militär und die Marine, die auswärtige Vertretung, der Schutz des deutschen 
Handels, Zollwesen, Heimats- und Niederlassungswesen, Post und Telegraph, 
Ordnung des Eisenbahnwesens im Intexesse des allgemeinen Verkehrs, Münz- 
Maß- und Gewichtswesen, die Ordnung des Strafrechts und bürgerlichen 
Rechts sowie des Verfahrens vor den Gerichten. Auf den meisten dieser 
Gebiete hat das Reich die erforderlichen Gesetze zu erlassen, während der 
Vollzug den Landesregierungen und ihren Behörden zusteht; nur in wenigen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.