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„Ich hole hier/' antwortete die Biene, „Süßigkeiten und
Kraftsuppen, die ich unsrer Mutter, der Königin, und meinen
kleinen Geschwistern bringe."
„Warum," so fragte die Bremse, „holen sich deine Mutter
und deine Geschwister nicht selber ihr Futter?"
„Die Mutter hat nötige Geschäfte; denn sie muss unsern
ganzen Schwarm regieren. Die Geschwister sind noch gar
klein, können nicht fliegen und liegen noch in den Windeln
der Wachszellen. Auch ist es ein weiter Weg von dem
Hause unsrer Mutter bis hierher in den Wald. Aber ich
mache den Weg gern, und wenn ich heimfliege mit der Last
des Honigs, da singe ich laut vor Vergnügen. Daheim teile
ich dann die süsse Speise aus und fliege mit Gesang wie¬
der fort; denn solches Arbeiten für die, welche man liebt,
ist so süss wie der Honig selber."
„Ei, du arme Närrin," sagte die Bremse, „wie machst du
dir dein Leben so sauer! Sieh mich an, wie ich so flink
und kräftig bin. Ich bekümmere mich um keine Mutter und
keine Geschwister, arbeite niemals, und doch ist meine Kost
edler und besser als die deine; denn ich trinke keinen so
faden Blumensaft wie du, sondern ich sauge das köstliche
rote, warme Blut der Tiere und Menschen."
„Wie?" fragte die Biene, „Blut magst du saugen, und
du schämst dich nicht? Ist das nicht ein grosses Unrecht?"
„Unrecht?" fragte die Bremse. „Ist das nicht vielmehr
ungerecht, dass wir alle, die Fliegen, die Bienen, die Käfer
und Schmetterlinge, nur weifses, kaltes Blut haben sollen,
während die Menschen, Pferde, Kühe, Schafe, sowie andres
Vieh und selbst die Vögel rotes, warmes Blut haben? Sag'
mir doch, wer ist die Mehrzahl? Sind wir Bremsen, die
Bienen, Fliegen, Käfer, Heuschrecken und Schmetterlinge
nicht viele Hunderttausende mehr als alle Kühe, Pferde und
Menschen, die es auf Erden gibt? Sollte uns nicht deshalb
das Reich der Erde gehören? Thut man ein Unrecht, wenn
man jenen Kreaturen das nimmt, was sie von Rechts wegen
nicht voraushaben sollten?"