Full text: Lehr- und Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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wenig; am meisten aber erregten die Menschengestalten, die 
ec sonst noch nie gesehen hatte, seine Aufmerksamkeit. Er 
beschloß, diese Art von Geschöpfen naher kennen zu lernen, 
in dieser Absicht ihre Gestalt anzunehmen, und sich einige 
Zeit unter ihnen aufzuhalten. 
Zuerst trat er als Knecht in die Dienste eines Land- 
wirths, lind verrichtete seine Arbeit aufs beste. Alles, was 
er unternahm, gelang ihm, und er schaffte seinem Herrn 
großen Nutzen, so daß dieser durch ihn hatte reich werden 
können. Allein der Herr war ein liederlicher Verschwender, 
der Alles wieder durchbrachte, was sein treuer Knecht erwarb, 
rnld ihm für seine Dienste nicht einmal dankte. Hier¬ 
über ward Rübezahl ärgerlich, und ging zu einem andern, 
bei dem er sich als Schafhirt vermiethele. Die Heerde ge¬ 
dieh gleichfalls unter seiner Aufsicht, und mehrte sich. Kein 
Schaf erkrankte, keins wurde vom Wolfe zerrissen, so lange 
Rübezahl sie hütete. Aber sein Herr war ein Geizhals, der 
ihm nicht satt zu essen gab, unb ihm seinen Lohn verkürzte, 
so oft er nur konnte. Darum schied Rübezahl auch von 
diesem und begab sich zu einem Amtmanne, bei dem er die 
Stelle eines Gerichtsdieners übernahm. Er versah diesen 
Dienst mit allem Eifer, und reinigte in kurzer Zeit seinen 
Amtsbezirk von Dieben und Straßenräubern. Als er aber 
fand, daß der Amtmann ein ungerechter Richter war, und 
mit Geschenken sich bestechen ließ, wollte er nicht länger das 
Werkzeug der Ungerechtigkeit sein, und lief davon. 
Nun hatte er keine Lust mehr, noch weitere Proben zu 
machen; denn da er von ungefähr an lauter schlechte Men¬ 
schen gerathen war, so faßte er von dem ganzen Menschen¬ 
geschlechte eine ungünstige Meinung, und nahm sich vor, diese 
Brut, wie er sie im Unwillen nann e, überall, so weit sein 
Gebiet ging, zu necken und zu plagen. Doch änderte er 
noch einmal seinen Entschluß, als er ein schönes, unschuldi¬ 
ges, junges Mädchen sah, welches ihm so sehr gefiel, daß 
er es in seine Gewalt zu bekommen suchte. 
Dies war die Tochter eines Fürsten, dessen Schloß in 
der Nähe des Niescngebirges lag. Die Prinzessin pflegte 
öfters mtt ihren Gespielen in einem anmuthigen Wäldchen 
zu lustwandeln; und hier war cs, wo Rübezahl sie erblickte, 
unb sie mit unsichtbarer Hand entführte. Die Gespielen 
erschracken, als die Prinzessin plötzlich verschwunden war, 
und sahen einander mit starren Augen an. Endlich erhoben
	        
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