Full text: Lesebuch für ländliche Fortbildungsschulen im Königreich Preußen

54 
Die erste Hilfe bei Unglücksfällen. 
zu lassen. Dann legte sie sofort selbst Hand an, wobei sie das ver— 
ständige Hausmädchen aufforderte, ihr Hilfe zu leisten. Mit einigen 
Scherenschnitten trennte sie Jacke und Hemd auf und streifte die 
Kleider vom Oberkörper völlig ab. Mit einem Taschentuch ent— 
fernte sie den Schlamm, der sich im Munde befand, zog die Zunge 
hervor und band deren Spitze mit dem Taschentuch auf dem Kinn 
fest. Dann begann sie mit dem Hausmädchen die künstlichen Atem— 
bewegungen auszuführen, wie sie es in der Samariterschule gelernt 
hatte. In stets gleichem Takte wurde durch Erheben der Arme 
bis über den Kopf der kleine Brustkasten möglichst weit ausgedehnt 
und dann wieder durch Senken der Arme und Druck auf die Seiten— 
flächen der Brust zusammengedrückt. Mit deutlich hörbarem Ge— 
räusch drang der Luftstrom ein und aus; aber das Kind lag blaß 
und leblos, wenn die beiden Mädchen, von der Anstrengung er— 
mattet, auf Augenblicke ihre Bemühungen aussetzten. 
Eine Viertelstunde nach der andern verging; immer mehr 
schwand die Hoffnung der Mutter und der Umstehenden. Endlich, 
nachdem mehr als eine Stunde lang die Bewegungen fortgesetzt 
waren, schrie plötzlich das junge Mädchen auf: „Jetzt hilft es! Er 
fängt an zu atmen!“ Und siehe da, als sie mit den Bewegungen 
anhielten, hob sich die kleine Brust von selbst, und eine leichte Röte 
färbte die blassen Wangen. Lauter Jubel der Umstehenden erhob 
sich, aber die beiden Helferinnen ließen noch nicht nach und setzten, 
obwohl aufs äußerste erschöpft, ihre Bemühungen unablässig fort, 
bis die Wangen sich lebhafter röteten und der Kleine plötzlich die 
Augen aufschlug. Nun wurden auf Geheiß der jungen Samariterin 
die gewärmten Decken herbeigebracht, in die der Kleine nach Be— 
seitigung der übrigen Kleidungsstücke eingehüllt und mit denen er 
dann tüchtig gerieben wurde. Der Kleine fing an zu sprechen und 
verlangte etwas zu trinken. Man flößte ihm warmen Tee ein und 
trug ihn nun, in Decken eingehüllt, ins Haus und in sein Bett, wo 
er dann bald in einen tiefen Schlaf gesunken war. Als ich zwei 
Stunden später an sein Bett trat, klagte er über nichts mehr. 
II. 
1. Wie oft werden die unzweckmäßigen Mittel angewendet, 
das Blut zu stillen, weil die Leute keine Vorstellung davon haben, 
woher das Blut kommt, und nur von allerlei Blutstillungsmitteln 
gehört haben, die sich in diesem oder jenem Falle bewährt haben 
sollen. Den größten Ruf besitzt hierfür das Spinngewebe, und man 
beeilt sich, aus dem staubigsten Winkel möglichst viel von diesem 
unsaubern Stoffe herbeizuholen und in die Wunde zu stopfen. Wenn 
das nicht hilft, kommt der Feuerschwamm an die Reihe oder ein 
alter, schmutziger Waschschwamm, der in die Wunde hineingepreßt 
wird. Nicht selten aber sind Leute da, die gehört oder gesehen haben, 
daß man durch Druck jede Blutung stillen könne. Wo und wie aber
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.