„Was suchst du denn?“ fragte Lina, stehenbleibend..
„Ich suche Schneeglöckchen,“ sagte die Kleine schüch¬
tern. Die Kinder sahen sich mit heimlichem Lachen an.
Hier konnte sie lange suchen, hier waren keine Schnee¬
glöckchen. Ja, wenn sie von dem Ort gewußt hätte, zu dem
sie gingen!
Schon wollten sie an dem Mädchen vorüber weitergehen,
als es der mitleidigen Adele auffiel, wie blaß und traurig
das fremde Kind aussah.
„Wozu brauchst du denn die Schneeglöckchen?“
fragte sie.
Die Kleine zögerte einen Augenblick, dann sagte sie:
„Ich will sie verkaufen.“
„Verkaufen?“ wiederholten die Kinder erstaunt.
„Unsere Nachbarin, die Gemüsefrau, will die Schnee¬
glöckchen mit auf den Markt nehmen,“ fuhr das Mädchen
fort. „Für jedes Sträußchen, das ich ihr bringe, zahlt sie
mir zwei Pfennig, denn die Schneeglöckchen sind jetzt noch
teuer.“
„Und was willst du denn mit dem Gelde machen?“
fragte Lina.
„Das bekommt die Mutter,“ sagte die Kleine. „Sie weiß
gar nicht, woher sie Brot für uns fünf Kinder nehmen soll,
denn der Vater ist krank und kann nichts verdienen. 0, ich
wäre so froh gewesen, wenn ich Schneeglöckchen gefunden
hätte!" setzte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu.
Wieder sahen die Kinder sich an, aber diesmal ohne zu
lachen. Dann traten sie dicht zusammen und flüsterten
miteinander, dann sagte Lina zu der Kleinen: „Wir wissen,
wo Schneeglöckchen sind. Wenn du versprechen willst, den
Ort niemand anderem zu zeigen, darfst du mit uns gehen.“
Dankbar sah das Mädchen — Anna hieß es — zu den
Kindern auf und folgte ihnen bescheiden.
Wacker, Lesebuch. A3. II. Teil.
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