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Mensch auch schon von manchem Kräutlein Nutzen gezogen, das er nicht selbst
gesäet und gepflanzet, nicht im Frühlingsfrost gededtt und in der Sommerhitze
begossen hat. Und eine einzige unscheinbare und verachtete Pflanze, deren Kraft
dir oder deinen Kindern, oder auch nur deinem Vieh, eine Wunde heilt, einen
Schmerz vertreibt oder das Leben rettet, belohnt die Mühe und den Schaden
reichlich den tausend andere verursachen. Aber wer stellt den Menschen zufrieden?
Wenn die Natur nicht so wäre, wie sie ist, wenn wir Baldrian und Wohlgemut,
Ehrenpreis und Augentrost und alle Pflanzen in Feld und Wald, die uns in
gesunden und kranken Tagen zu mancherlei Zwecken nützlich und nötig sind, selbst
aussäen, warten und pflegen müßten, wie würden wir alsdann erst klagen über
des vielbedürftigen Lebens Mühe und Sorgen!
128.
Der Blinde und der Lahme.
WVon Christian Fürchtegott Gellert.)
VOn ungefähr muß einen Blinden
ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudenvoll,
daß ihn der andre leiten soll.
Entschließ du dich, mich fortzutragen,
so will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
mein helles Auge deines sein.
Der Lahme hängt mit seinen Krücken
sich auf des Blinden breiten Rücken:
Vereint wirkt also dieses Paar,
was einzeln keinem möglich war
Dir, spricht der Lahme, beizustehen?
ich armer Mann kann selbst nicht gehen.
Doch scheint's, daß du zu einer Last
noch sehr gesunde Schultern hast.
429.
Phaethon.
Won H. Wilh. Stoll.)
Poaelhon, der Sohn des Helios und der Okeanide Klymene, war bei der
Mutter im Lande der östlichen Äthiopen zu einem stattlichen Jüngling aufge⸗
wachsen. Als dieser einst, stolz auf seine Abkunft von dem Sonnengott, sich dem
Epaphos, dem Sohne des Zeus und der Jo, der von demselben Alter war und
von niut geringerem Stolze, gleich zu stellen wagte, verlachte ihn Epaphos und
erhob Zweifel gegen seine göttliche Abkunft. Voll Scham und Zorn eilte Phae—
thon zu seiner Mutter Klymene, warf sich an ihre Brust und klagte ihr die
Kränkung. „Gieb mir ein sicheres Zeichen,“ bat er, „womit ich beweise, daß
Helios mein Vater.“ Klymene erhob beide Hände zum Himmel und, den Blick
zu dem Lichte der Sonne gerichtet, sprach sie: „Bei diesen allschauenden Strahlen
schwöre ich dir, daß du des Helios Sohn bist; wenn ich lüge, so soll jetzt
zum letztenmal mein Auge das Sonnenlicht schauen. Auch ist es nicht weit bis
zum Hause deines Vaters, es steht ganz in der Nähe unseres Landes; wenn du
Lust hast, so gehe hin und frage deinen Vater selbst.“ Ein freudiger Mut durch—
zuckte bei diesen Worten Phaethons Brust, und sogleich eilte er durch das Land
der AÄthiopen und der Inder zum Aufgang der Sonne.
Dort stand auf ragender Höhe die glänzende Sonnenburg, von hohen
Säulengängen umgeben, strahlend im Feuerglanze von Gold und Karfunkel.
Wackernagel, Lesebuch. J.
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