Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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biner Bahn verschlagenes Schiff segelte schon bei nächtlicher Weile über eine 
dallig weg, und die erstaunten Seeleute glaubten sich von Zauberei umgeben, 
wenn sie auf einmal neben sich ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster 
iner Stube schimmern sahen, die, halb von den Wellen bedeckt, keinen andern 
Grund als diese Wellen zu haben schien. Aber es bricht der Sturm zugleich 
mit der Flut auf das bange Eiland ein. Die Wasser steigen gegen zwanzig 
Fuß über ihren gewoöhnlichen Stand hinauf. Die Wogen dehnen sich zu Berg 
und Thal, und das Meer sendet in immer neuen, langen Zügen seine volle, 
breite Gewalt gegen die einzelnen Werften, um sie aus seiner Bahn wegzuschieben. 
Der Erdhügel, der nur eine Zeitlang zitternd widerstand, giebt nach; bei den 
unausgesetzten Angriffen bricht ein Stück nach dem andern ab und schießt hin⸗ 
unter. Die Pfosten des Hauses, welche die Vorsicht eben so tief in die Werfte 
hineinsenkte, als sie darüber hervorstehen, werden dadurch entblößt; das Meer 
saßt sie, rüttelt sin Der erschreckte Bewohner des Hauses rettet erst seine besten 
Schafe hinauf auf den Boden, dann flieht er felbst nach; und hohe Zeit 
war es! Denn schon stützen die Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten 
den schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem Siegesübermut 
schalten nun die Wogen in dem untern Teil des Hauses; sie werfen Schränke, 
Listen, Betten, Wiegen mit wildem Spiel durcheinander, schlagen sich immer 
freieren Durchgang, um alles hinauszureißen auf den weitern Tummelplatz ihrer 
unbändigen Kraft, und der Stützpunkte des Daches werden immer weniger, des 
Daches, dessen Niedersturz rettungslos einer noch vor wenigen Stunden in häus⸗ 
licher Geschaftigkeit mit einander wirkenden oder im sanften Arm des Schlummers 
neben einandee tuhenden Familie ein schäumendes Grab bereitet. Ängstlich 
lauscht das Ohr, ob nicht das Brausen des Sturmes abnehme; ängstlich pocht 
das Herz bei jeder Erschütterung; immer enger drängen die Unglücklichen sich 
zusammen. In der Finsternis sieht keiner das entsetzenbleiche Antlitz des 
andern; im Donnergeroll der tobenden Wogen verhallt das bange Gestöhn; 
aber jeder kann an seiner eignen Qual die marternde Angst seiner Lieben er— 
messen. Der Mann preßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit verzweiflungs⸗ 
voller Todesgewißheit an sich; die Bretter unter ihren Füßen werden von der 
drängenden Flut gehoben; aus allen Fugen quellen die Wasser auf; das Dach 
wird durchlöchert vom Wogensturz; ein irrer Mondstrahl dringt durch die zer— 
rissenen Wolken, fällt hinein auf die Jammerscene, die von seinem bleichen, 
zuckenden Lichte beleuchtet, in all ihrer Furchtbarkeit erscheint und die angstver⸗ 
zerrten Gesichter einander spiegelt. Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer 
Schreckruf! Noch eine martervolle Minute! Noch eine! Der Dachboden senkt 
sich nach einer Seite; ein neuer Flutenberg schäumt herauf, und — im Sturm— 
geheul verhallt der letzte Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schleudern sich 
einander Trümmer und Leichen zu. — 
Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat; liebt sie über alles, und 
der aus der Sturmflut Gerettete baut sich nirgends sonst wieder an, als auf 
dem Fleck, wo er alles verlor und wo er in kurzem wieder alles, und sein Leben 
mit, verlieren kann. 
Wir bewundern den Sohn der afrikanischen Wüste, der sein Zelt aufschlägt 
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