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Wann, o wann?
3. Viel tausend Herzen sind entfacht
und harren wie das meine,
auf allen Bergen halten sie Wacht,
ob rot der Tag erscheine.
4. Deutschland, die schön geschmückte Braut,
schon schläft sie leis' und leiser —
wann weckst du sie mit Trompetenlaut,
wann führst du sie heim, mein Kaiser?
143. Wann, o wann?
Emanuel Geibel.
1. Wann doch, wann erscheint der
Meister,
der, o Deutschland, dich erbaut,
wie die Sehnsucht edler Geister
ahnungsvoll dich längst geschaut?
2. Eins nach außen, schwertge¬
waltig
um ein hoch Panier geschart!
Innen reich und vielgestaltig,
jeder Stamm nach seiner Art!
3. Seht ihr, wie der Regenbogen
dort in sieben Farben quillt?
Dennoch hoch und fest gezogen
wölbt er sich, der Eintracht Bild.
4. Auf der Harfe laut und leise
sind gespannt der Saiten viel;
jede tönt nach ihrer Weise,
dennoch giebt's ein klares Spiel.
5. O, wann rauschen so ver¬
schlungen
eure Farben, Süd und Nord!
Harfenspiel der deutschen Zungen,
wann erklingst du im Accord!
6. Laß mich's einmal noch ver¬
nehmen,
laß mich's einmal. Herr, noch sehn!
llnd dann will ich's ohne Grämen
unsern Vätern melden gehn. (1858.)
144. Am Jahresschlüsse. (1866.)
Emanuel Geibel.
1. Hast du endlich allverständlich,
Schicksal, deinen Spruch gethan,
und wie Frühlingsbrausen endlich
weht's das deutsche Leben an?
Ja, der Bannfluch ist gebrochen,
der beklemmend auf uns lag,
und befreit, mit Herzenspochen
grüßen wir den jungen Tag.
2. Wo an Böhmens wald'gen Borden
siebenmal die Schlacht getobt,
hat der schwarze Aar vom Norden
seiner Schwingen Kraft erprobt;
in den Staub von ihr getrümmert
sank die Fessel, die so lang
jeden Hoffnungstraum verkümmert,
der aus deutscher Seele sprang.
3. Doch, wie stolz im Feld der Waffen
euer Wurf, ihr Sieger, fiel:
halb erst steht das Werk geschaffen,
unsrer Sehnsucht hohes Ziel.
Andern Grund noch giebt's zu legen
als des Schwertes freudlos Recht;
nur in freier Liebe Segen
knüpft Geschlecht sich an Geschlecht.