Full text: [Teil 5 = Untertertia, [Schülerband]] (Teil 5 = Untertertia, [Schülerband])

Vilmar: Gudrun. 
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barfuß mit Tagesanbruch durch den Schnee hinaus nach dem wilden 
Meergestade waten, ihre Wäsche zu vollenden. An eben diesem Morgen 
aber kommen Ortwin und Herwig, Kunde einzuziehen, in einer Barke in 
die Nähe der Stelle, wo die Königstochter, bebend vor Frost im nassen 
Gewände, an der mit Eis strömenden Meerflut und im stürmenden März¬ 
winde, der ihr schönes Haar ihr wild uni Nacken und Schultern schleudert, 
die Leinwand wäscht. Die beiden Kriegsmänner nahen sich den Jung¬ 
frauen, die sich schon auf die Flucht begeben wollen, und bieten ihnen 
den Morgengruß, den sie lange nicht gehört haben, denn bei Frau Gerlind 
ist „guten Morgen", „guten Abend" teuer. Sie erkennen Gudrun in 
der schmachvollen Niedrigkeit ihrer Kleidung und ihrer Magdarbeit nicht, 
fragen sie aus um Land und Leute, vernehmen, daß das Land wohl ge¬ 
rüstet und stark bewehrt sei und man hier nur vor einem Feinde, den 
Friesen (Hegelingen), Besorgnis hege. Während der langen Unterredung 
stehen die Jungfrauen, in der herben Kälte zitternd, vor den fragenden 
Helden; diese bieten mitleidig ihnen ihre Mäntel, sich darein zu hüllen, 
aber Gudrun entgegnet: „Da soll mich Gott bewahren, daß an meinem 
Leibe jemals einer Manneskleider sehe!" Da fragt auch ihr Bruder 
Ortwin, ob nicht eine Jungfrau Gudrun einst als Geraubte hierhergebracht 
worden sei, und Herwig vergleicht wiederholt die Züge der armen Dienst¬ 
magd mit den Zügen der edlen Königstochter, die einst seine Braut war; 
auch nennt er Ortwin bei Namen. „Ach," sagt Gudrun, „wenn Ortwin 
und Herwig noch lebten, sie wären längst gekommen, uns zu retten; ich 
bin auch eine von den damals Geraubten, die arme Gudrun aber ist 
schon lange tot." Da streckt der Seelandskönig seine Hand aus: „Seid 
Ihr von den Geraubten, so müßt Ihr das Gold kennen, das ich an 
meinem Finger trage, ich bin Herwig genannt, und mit diesem Ring ist 
Gudrun mir zu minnen verlobt worden." Da leuchten die Augen der 
Jungfrau in heller Freude auf, und wie gern sie auch die Schmach ihrer 
Dienstbarkeit verborgen hätte, sie ist überwältigt: „Das Gold ich wohl 
erkenne, denn ehedem war es mein; so trage auch ich noch dieses Gold, 
das einst mir Herwig sandte." Allein Bruder und Verlobter können nicht 
anders glauben, als daß sie, wie das damals sich von selbst verstand, Hart¬ 
muts Gemahlin-geworden sei, und sprechen ihr Erschrecken darüber aus, 
daß sie trotzdem so niedrige Dienste leisten müsse. Als sie jedoch erfahren, 
warum sie diese Demütigung, und so lange Jahre hindurch, erdulde, will 
Herwig sie aus der Stelle mitnehmen. „Was mir im Sturm des Kriegs 
ist abgenommen worden," entgegnet Ortwin, „das will ich heimlich nicht 
entwenden, und ehe ich heimlich stehle, was ich mit Waffenkampf erringen 
muß, eher mögen, hätte ich hundert Schwestern, sie alle hier sterben." 
Die beiden Fürsten fahren zurück nach ihrer Kriegsflotte, und der Sturm 
auf die Normannenburg wird vorbereitet. Gudrun aber, im erwachten
	        
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