Full text: [Teil 8 = [Klasse 2], [Schülerband]] (Teil 8 = [Klasse 2], [Schülerband])

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einer Nebelnacht auf über 10 Zentner berechnet. Daß die dünnen Drähte 
das tragen sollen, kann man nicht verlangen; sie werden deshalb regel— 
mäßig vom Herbst bis zum Frühling abgenommen und der Telegraph 
außer Betrieb gesetzt, so daß der Verkehr mit der Welt auf Briefe be— 
schränkt ist, die auf Schneeschuhen nach Schierke gebracht werden — für 
die Wetterberichte vom Brocken ein bedeutender Übelstand. 
Wenn das am dürren Holze — das ist doch eine Stange — 
geschieht, was soll am grünen werden? Und es wird auch etwas! Daß 
der Rauhreif nicht nur Drähte zerreißen, sondern auch hohe Bäume 
zerbrechen kann, sei nur nebenher erwähnt, denn das geschieht immerhin 
seltener. Zumeist begnügt er sich, in souveräner Künstlerlaune den 
Fichten eine Gestalt zu geben, wie sie toller und abenteuerlicher keine 
Phantasie auszudenken vermag. — Zunächst überzieht sich jede einzelne 
Nadel, jeder Zweig mit einem dichten Gespinst von allerzierlichster Arbeit 
und doch von solchem Gewicht, daß die Zweige sich demütig immer 
tiefer herabsenken. Ein Sonnenschein bricht durch und schmelzt im 
Augenblick die zartesten Eisfasern, die am hangenden Zweige herabrinnen, 
unten im Schatten schnell wieder gefrieren und sich durch neuen Zuschub 
von oben zu immer längeren Eiszapfen auswachsen, die mit der Zeit 
den Erdboden erreichen, aber nicht mehr als dünne Stäbe, wie sie an— 
fingen, sondern, durch den Rauhreif selbst wieder in neue Arbeit ge⸗ 
nommen, zu handfesten Säulen gestaltet, die nun ihrerseits den Ästen als 
gediegene und sehr wertvolle Stützen dienen. 
Nun denke man sich einen solchen auf zahlreichen glitzernden Säulen 
ruhenden Baum, dessen einzelne Aste und Zweige wiederum durch hundert 
und aber hundert Säulchen gestützt und verbunden sind, und der ringsum 
von einer wie Perlen und Diamanten schimmernden Eisfülle umgeben 
ist — das ist ein Weihnachtsbaum, wie ihn kein menschliches Schmuck— 
werk zustande bringt! Und nun einen solchen Wald, wo die Fichten 
nicht regelmäßige Pyramiden sind, wie tiefer unten, sondern schon im 
Sommer die allerbarocksten, verrenktesten Formen zeigen, da Baum für 
Baum in so launenhaft phantastischem Aufputz: das kann ganz berückend 
schön sein, wenn plötzlich die Sonne die schleichenden Dünste auflöst und 
nun ein überschwengliches Funkeln und Leuchten aller Regenbogenfarben 
in dem silbernen Zaubergewebe beginnt und zugleich ein leises Rieseln 
und Raunen und Tupfen von Millionen abgleitender Tröpfchen; es kann 
aber auch unheimlich bis zur Beängstigung sein, wenn schleichende Nebel 
lautlos diese verhexte Wildnis durchwandern und die tollgewordenen 
Baumgestalten noch ungeheuerlicher und spukhafter verzerren. Solcher 
Anblick könnte allein schon das Entstehen der Hexensagen erklären, mit 
denen die Volksphantasie diesen einsamen Gipfel umsponnen hat. 
Und wieder verweilen wir wohl eine Nacht, begeistert durch solche 
Entdeckungen: und am anderen Morgen finden wir eine tiefe, leuchtende
	        
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