Full text: Für Tertia (Abtheilung 1, [Schülerband])

Rückert. Schiller. Kerner. 
223 
Es webt um meine Wipfel 
Noch der Erinnrung Duft. 
5-. Ich sah in alten Zeiten 
Die Kaiser und die Herrn 
Im Lande ziehn und reiten; 
Wie liegt das heut' so fern! 
Da möcht' ich wohl mit Rauschen 
Sie grüßen in der Nacht ^ 
Und mit den Winden tauschen 
Gespräch von Deutscher Macht. 
6. Dann kam die Zeit der Irrung, 
Des Abfalls in das Land, 
Voll schmählicher Verwirrung, 
Da ich gar traurig stand; 
Es klirrten fremde Waffen, 
Es zuckte mir durchs Mark, 
Ich sah die Zeit erschlaffen 
Und blieb kaum selber stark. 
7. Den Himmel sah ich säumen 
Ein neues Morgenroth, 
Es scholl aus fernen Räumen 
Der Freiheit Aufgebot; 
Ich sah auf alten Bahnen 
Die neuen Deutschen gehn, 
Die lang entwöhnten Fahnen 
Vom Rheinstrom her mir wehn. 
8. Da schüttelten die Winde 
Mein altes Haupt im Sturm; 
Vor Schreck entsank der Rinde, 
Der sie genagt, der Wurm: 
Nun werden Deutsch die Gauen 
Vom Wasgau bis zur Pfalz, 
Und wieder wird man bauen 
Hier eine Kaiserpfalz. 
9. Doch als das große Wetter 
Eilfertig, ohne Spur, 
Wie Windeshauch durch Blätter 
Dahier vorüberfuhr — 
Mein Wipfel ist geborsten, 
Es wird nicht mehr der Aar 
In diesen Forsten horsten, 
Der meine Hoffnung war. 
10. Lebt, Adler, wohl und Falken! 
Ich fall' in Schmach und Graus 
Und gebe keinen Balken 
Zu einem Deutschen Haus; 
Man wird hinab mich schleppen 
Und drunten aus mir nur 
Versehn mit neuen Treppen 
Mairie und Präfektur. 
11. Doch, jüngre Waldgeschwister, 
Ihr hauchet frischbelaubt 
Teilnehmendes Geflister 
Um mein erstorbnes Haupt; 
Euch alle sterbend weih' ich 
Zu schönrer Zukunft ein, 
Und also prophezei' ich, 
Wie fern die Zeit mag sein: 
12. Einst einer von euch allen, 
Wenn er so altergrau 
Wird, wie ich falle, fallen, 
Giebt Stoff zu andrem Bau, 
Da wohnen wird und wachen 
Ein Fürst auf Teutscher Flur; 
Dann wird mein Holz noch krachen 
Im Bau der Präfektur." 
834. Nadowessische Todtenklage. (Juli 1797.) 
Von Friedrich v. Schiller. Werke. Stuttgart und Tübingen, 1834. 
u Seht, da sitzt er auf der Matte! 
Aufrecht sitzt er da 
Mit dem Anstand, den er hatte, 
Als er's Licht noch sah. 
Doch, wo ist die Kraft der Fäuste, 
Wo des Athems Hauch, 
Der noch jüngst zum großen Geiste 
Blies der Pfeife Rauch? 
o. Wo die Augen, falkenhelle, 
Die des Rennthiers Spur 
Zählten auf des Grases Welle, 
Auf dem Thau der Flur? 
4- Diese Schenkel, die behender 
Flohen durch den Schnee 
Als der Hirsch, der Zwanzigender, 
Als des Berges Reh? 
5. Diese Arme, die den Bogen 
Spannten streng und straff? 
Seht, das Leben ist entflogen! 
Seht, sie hangen schlaff! 
6. " Wohl ihm, er ist hingegangen, 
Wo kein Schnee mehr ist, 
Wo mit Mais die Felder prangen, 
Der von selber sprießt; 
7. Wo niit Vögeln alle Sträuche, 
Wo der Wald mit Wild, 
Wo mit Fischen alle Teiche 
Lustig sind gefüllt!
	        
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