Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Classen höherer Lehranstalten

Größere epische Dichtungen. 
So daß der innern Schönheit Licht 
Ihr blaues Aug', ihr rosig Gesicht 
Und Mienenspiel, Geberd und Gang 
Verklärend mit höherm Glanz durchdrang. 
Ob all der Freud' und stillen Lust, 
Womit der betrachtenden Eltern Brust 
Tagtäglich erquickte das Töchterlein, 
50 Schlief Sorg' und Furcht allmälig ein. 
Schon hatt' es fünfzehn Lenze gesehn, 
Und prangte bereits jungfräulich schön. 
Gelöst war längst vielleicht der Fluch, 
Der Zorn, den die weise Frau einst trug. 
Und hatte nicht rings aus dem ganzen Land 
Des Königs Wort die Spindeln verbannt? 
So kehrte zuletzt beruhigt Glüͤck 
In sein und der Gattin Herz zurück. 
Es war ein herrlicher Maientag. 
bO Wie lachten Wiesen und Flur und Hag, 
Der Ströme Spiegel, der Berge Kranz, 
Des Aethers Bogen im Frühlingsglanz! 
Da trieb es den König mit mächt'ger Gewalt 
In's Freie hinaus, in den grünen Wald, 
Auf fröhlicher Fahrt mit seinem Gemahl 
Und dem Hof zu ziehen durch Berg und Thal. 
Ungern entbehrte der Vater zwar 
Des Töchterleins Bild in der bunten Schaar; 
Doch ach! sie bat ihn so hold, so süß, 
70 Daß er daheim sie im Schlosse ließ. 
Sie liebt' es, an schönen Tagen allein 
Mit sich und ihrem Herzen zu sein, 
Auf Park und Gärten und blühende Au'n 
Von hoher Zinne des Daches zu schau'n, 
Zu lauschen der Vöglein süßem Ton, 
Zu träumen, sie wußte selbst nicht, wovon. 
Sie sah vom ragenden Schloßaltan 
Noch einmal den stattlichen Zug sich an, 
Der jetzt auf Rossen, von Rüden umbellt, 
80 Hinausfuhr in die Frühlingswelt; 
Dann zog sie, der Einsamkeit slilles Glück 
Zu kosten, sich in die Gemächer zurück. 
Schon nahte die Sonne dem Ziel der Bahn, 
Da wandelte Lust das Mädchen an 
Von einem der Thuͤrme, die, weit durch's 
dLVand 
Hinschauend, umstanden des Schlosses Rand, 
Des Blicks zu genießen auf Thal und Höhm, 
Den abendvergoldeten Himmel zu seh'n. 
Sie wählte der Thürme letzten sich aus, 
90 Den ältesten Theil am Königshaus, 
Von fernen Ahnen aus Quadern erbaut, 
Von Moos umzogen, vom Alter ergraut. 
Und als sie im Dunkeln, auf enger Bahn, 
Die steinerne Wendeltreppe hinan 
Sich mühsam wand, da kam es ihr vor, 
Als dräng ein seltsam Gesumm zum Ohr, 
Ein schnurrender Ton, wie sie nie gehört, 
Der ahnungsbang ihr das Herz bethört. 
Doch schritt sie höher und trat an's Licht, 
100 Und wollte sich freu'n der herrlichen 
Sicht, 
Da zogen unten im Abendschei 
Die Letzten des Zugs zum Schloßthor ein, 
Der um den König, zur Freudenfahrt 
Durch Wald und Gebirg', sich heute ge⸗ 
schaart. 
Drum auf dem Thurme galts kein Weilen, 
Sie mußt' entgegen zum Willkomm eilen. 
Und wie sie der Treppe finsteren Gang 
Hinunter sich wand, aufs Neue drang 
Ihr sinnberückend zum Ohr das Gesumm; 
110 Sie stand und horchte, starr und stumm, 
Sie war, wie durch Zaubergewalt, gebannt; 
Und blindlings hat die tastende Hand 
Den Schlüssel in einem Thürchen erfaßt; 
Noch stockt sie rin dann dreht sie mit 
ast, 
Die Thür springt auf — sie blickt hinein 
Und sieht, bei des Fensterchens Zwielichtschein, 
Im engen Stübchen ein spinnend Weib, 
Schneeweiß, mit alterverwittertem Leib, 
Das mit dem Kopfe vor Schwäche nickt, 
120 Und mühsam auf zur Störenden blickt. 
Verwundert steht das Mädchen da, 
Das nimmer die Spindel tanzen sah. 
„Was schaffst Du?“ ruft sie, „Mütterchen, 
sprich!“ 
Gräft nach der Spindel, fühlt einen Stich — 
Und tiefer Schlaf, als waͤr's der Tod, 
Umfängt sie, nach der Fee Gebot. 
So lag sie da, in der Alten Schooß, 
Die auch entschlummerte, regungslos. 
Und sieh! o Wunder! da senkte schwer 
130 Der gleiche Schlaf sich auf Alles umher, 
Was Odem hatte, was Leben genoß 
Ringsum im weiten Königsschloß. 
Der König entschlief und sein Gemahl, 
Auf Sesseln ruhend, im hohen Saal; 
Gleich ihnen entschlief im Reisekleid 
Der Hofstaat, um die Herrscher gereiht; 
E streclten zum Schlaf in des Hofes Raum 
Die Pferde sich hin in Sattel und Zaum; 
Die Hunde legten sich am Portal 
140 Und an der Thüͤre zum Königssaal; 
Es hielten sich selbst auf hohem Dach 
Die Tauben in frischer Luft nicht wach, 
Sie saßen auf Firsten, in Reihen gestreckt, 
Das Köpfchen unter den Flügel gesteckt; 
Es ruhten die Fliegen an der Wand,
	        
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