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Zweiter Teil.
Am Wege zur Gegenwart.
Einführung.
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen. Goethe.
82. Das deutsche Volk seit dem Dreißigjährigen Kriege.
Gustav Freytag.
it der Reformation wurde es Schicksal des deutschen
VNolkes, seinen Charakter unter Verhältnissen zu ent—
wickeln, welche von denen anderer Kulturvölker Europas
grundverschieden waren. In Frankreich wurde die pro—
testantische Partei durch das Königtum blutig nieder—
geschlagen; der despotische Staat Ludwigs XIV. und die
Revolution wuchsen aus diesen Siegen heraus. In Eng—
land kam die protestantische Partei durch die Tudor zur hHerrschaft; die
Kämpfe gegen die Stuart und die Ausbildung der englischen Verfassung
waren die Folgen. In Deutschland folgte dem Gegensatz der Parteien
kein Sieg und keine Versöhnung; das Resultat war der Dreißigjährige
Krieg und die politische Ohnmacht Deutschlands, aus welcher erst die
letzte Vergangenheit es erhoben hat.
Dieser Dreißigjährige Krieg, seit der Völkerwanderung die ärgste Ver—
wüstung eines menschenreichen Volkes, ist das zweite Ereignis deutscher
Geschichte, welches dem Charakter des Volkes eigentümliche Richtung gab.
Der Krieg zerstörte die Volkskraft bis auf Trümmer, er beseitigte aller—
dings auch die Gefahren, welche einer deutschen Bildung durch das
Bündnis des Kaiserhauses mit den Romanen drohten. Er trennte den
Kaiserstaat auch politisch von dem übrigen Deutschland; erst allmählich
wurde, was durch die habsburger im Westen an Frankreich verloren
wurde, im Osten durch ein anderes Fürstengeschlecht dem deutschen Wesen
wieder gewonnen. Der große Zerstörungsprozeß des Krieges machte das