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und Erkenntnis und seinem spekulativen Geist schwankte er zwischen Glauben und Un—
glauben, Atheismus und Pantheismus und durchkämpfte täglich den Riesenkampf
zwischen Leidenschaft und Vernunft, bald kleinlich verzagend, bald himmelhoch jauch end.
Und was er innerlich erlebt, das wird der Inhalt seiner Werke, das wird verkörpert in
seinen Gestalten, durch alle Stadien der Empfindung, vom Menschenhaß Moors bis
zu dem für die Menschheit sich opfernden Marquis Posa. Aber immer hat der Dichter
das Herz voller Ideale, immer ist er erhaben und groß, hoheitsvoll, kaum die Erde
berührend, immer in glühender Begeisterung, der Prophet, der Sprecher für die ganze
Menschheit, in einer Sprache, deren hinreißende Kraft unwiderstehlich und unnachahmlich,
deren Pathos aus der Brust voll überquellendem Idealismus wie ein reißender Strom
unaufhaltsam hervorbricht. Das ist der jugendliche Schiller, der Verkünder der Freiheit
und der Menschenrechte, das unsterbliche Ideal der deutschen Jugend und aller derer,
die sich jung im Herzen fühlen:
Nun glühte seine Wange rot und röter
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Mut, der früher oder später
Den Widerstand der dumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter
Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit das Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.
Wo gibt es unter den vielen Werken Goethes auch nur eins, das mit der Be—
geisterung, dem hohen Schwung, der Leidenschaft der Schillerschen Sprache sich messen
könnte! Goethe ist der Dichter des reifen Mannes. Aus seinen Werken spricht die
klassische Ruhe, ein leidenschaftsloser, vornehmer Geist, eine überlegene Objektivität,
in der selbst die Leidenschaft durch die schöne Form abgetönt wird. Der leidenschaftlich
erregte Dichter des Don Karlos dagegen spricht in jeder Zeile seiner Jugenddramen
zu seinem Publikum, der ganzen Menschheit. In Goethes Werken tritt der Mensch
Goethe ganz zurück. Der Künstler verbirgt sich, um sein Werk allein durch sich selbst
wirken zu lassen. Die Schönheit ist sein Ideal, und durch die Darstellung dieses in seiner
Seele wohnenden Ideals will er uns emporheben zu lichteren Höhen, ein Glück genießen
lassen, das wir hier vergebens suchen, den Frieden, den die Welt nicht gibt.
152. Schutzgeister.
Von Konrad Ferdinand Meyer.
1. Nahe wieder sah ich glänzen Schauend pilgert' ich und lauschte,
Meiner Firne scharfe Grenzen, Weil ein guter Weggeselle
Meiner Alpen weiße Bünde, Heimlich Worte mit mir tauschte
Wurzelnd tief im Kern der Schweiz; Von der Berge Herzensmacht.
Wieder bin ich dort gegangen, 3. Traulich fühlt' ich eine Nähe
Vo die graden Wände hangen Und mir ward, ob ich ihn sähe;
In des Sees geheime Gründe Und er sprach: „Vor manchen Jahren
Mit dem dunkelgrünen Reiz. Bin ich rüstig hier gereist,
2. Nimmer war ein Tag so helle, Hier geschritten, dort gefahren!“
Niemals reiner meine Augen, Und er lobte Land und Leute,
Erd' und Himmel einzusaugen. Daß sich meine Seele freute
Meine Schritte gingen sacht; An dem liebevollen Geist.
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