Full text: Lesebuch für die evangelischen Volksschulen Württembergs

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Gebet überschwenglich erhört und mich fein gesegnet. Ich habe mich nun viele 
Jahre in dieser Stadt ausgeruht, Gott hat mir gute Zehrung gegeben, dazu 
Geld in den Kasten, gute Kleider, gute Wohnung, und dazu fromm Gemahl 
und gesunde Kinder, auch treu Gesinde. Für solche überschwengliche Wohl¬ 
thaten kann ich ihm nicht genug danken!" 
Psalm 50, 15. Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, so 
sollst du mich preisen. 
183. Das Ilallische Waisenhaus. 
(Von 1700 an.) 
Vor einem der Thore in Halle (einer Stadt in Preussen, an der Saale 
gelegen) steht ein hohes Gebäude, das über seinenTEingang Jes. 40, 31. als 
Inschrift trägt: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kr aft, dass sie auf¬ 
fahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie 
wandeln und nicht müde werden.« Dieser Eingang führt durch das Vorder¬ 
gebäude in einen sehr langen Hof, in eine wahre Strasse, auf deren beiden 
Seiten hohe Häuser stehen. Hier erblickt man ein Waisenhaus für arme Kin¬ 
der, eine Erziehungsanstalt für Kinder aus höheren Ständen, eine Buchdrucke¬ 
rei, besonders zum Druck von Bibeln, eine grosse Buchhandlung, viele Wirth¬ 
schaftsgebäude, Gärten u. dergl. 
Alles dieses ist erwachsen aus der gesegneten Glaubensarbeit des armen 
Predigers und Professors August Hermann Franke, geboren in Lübeck im 
Jahr 1663. Dieses Waisenhaus mit allen damit zusammenhängenden Gebäu¬ 
den und Anstalten hatte, wie alles Grosse, einen gar kleinen Anfang. Es 
ging damit folgendermassen zu: an jedem Donnerstag kamen Arme aus Fran¬ 
kes Gemeinde in das Pfarrhaus. Statt ihnen bloss Almosen in Brod oder 
Geld zu reichen, sprach er mit ihnen über christliche Wahrheiten und schloss 
jedesmal mit einem Gebet. Weil er selber arm war, so entzog er sich eine 
Zeit lang das Abendessen, um Geld für die Armen zu erübrigen. Im Jahr 
1695 hing er in seiner Wohnstube eine Armenbüchse auf und liess oben da¬ 
rüber den Spruch schreiben: 1 Joh. 3, 17 : »Wenn Jemand dieser Welt Güter 
hat und siehet seinen Bruder darben, und schleusst sein Herz vor ihm zu, 
wie bleibet die Liebe Gottes in ihm?« und darunter die Worte des Paulus: 
2 Kor. 9, 7.: »Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.« Nach Verlauf von einem 
Vierteljahr gab eine Person auf einmal 4 Thaler 16 Groschen (8 fl. 12 kr.) 
hinein. »Als ich dieses in die Hände nahm,« so erzählt er selbst, »sagte ich 
mit Glaubensfreudigkeit: das ist ein ehrlich Kapital, davon muss man etwas 
Hechtes stiften, ich will eine Armenschule damit anfangen. — Ich besprach 
mich nicht darüber mit Fleisch und Blut, sondern fuhr im Glauben zu und 
machte noch desselben Tages Anstalt. — Es wurden für zwei Thaler Bücher 
gekauft und an arme Kinder vertheilt ; ein armer Student musste ihnen täg¬ 
lich zwei Stunden Unterricht geben. Die Bettelkinder nahmen die neuen Bücher 
mit Freuden an; aber von 27 Büchern, die unter sie vertheilt worden, wurden 
ni’cht mehr a's vier wiedergebracht; die andern Kinder behielten oder ver¬ 
kauften die Bücher und blieben weg.« — Franke liess sich dadurch nicht ab¬ 
schrecken ; er kaufte neue Bücher, räumte einen Saal neben seiner Studir-
	        
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