Full text: Von den Uranfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Abteilung 1, [Schülerband])

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für dramatische Dichtung in dem Matze, datz er selbst ein französisches Lust¬ 
spiel verfatzte und in dem französischen Geschmacke lange befangen blieb. 
Ein weiteres, für den heranwachsenden Jüngling bedeutungsvolles 
Ereignis war die 1764 in Frankfurt vollzogene Wahl und Krönung des 
Kaisers Joseph II. Die wenn auch schon stark verblaßte Herrlichkeit des 
Heiligen Römischen Reichs entfaltete vor seinen Augen noch einmal ihren 
alten Glanz und hinterließ Eindrücke, die noch nach Jahrzehnten in voller 
Frische vorhanden waren. 
^m folgenden Jahre (Oktober 1765) bezog Goethe die Universität 
Leipzig, um auf väterlichen Wunsch Jurisprudenz zu studieren. Weder 
seine wissenschaftliche Vorbildung, noch seine sittliche Erfahrung waren 
für diesen bedeutsamen Schritt ausreichend; er lief Gefahr, auf bedenk¬ 
liche Abwege zu geraten, aber seine starke Natur behütete ihn vor dem 
Fall. Das Nechtsstudium zog ihn nicht an; sein Vorsatz, den schönen 
Wissenschaften sich zuzuwenden, befestigte sich. Aber auch auf diesem 
Gebiete genügten ihm die Vorlesungen nicht; Winckelmanns Geschichte der 
alten Kunst, Lessings Dramaturgie gaben seinem Denken eine neue Rich¬ 
tung; der überwältigende Eindruck der Dresdener Kunstschätze, eigene 
Versuche im Zeichnen und Radieren unter Oesers Anregung führten ihn 
ganz dem Studium der Kunst zu; auch die poetische Produktion nahm ihren 
Fortgang. In dem ungezwungenen Verkehr mit Leuten verschiedenster 
Lebensanschauung reifte seine Selbständigkeit; aus der Puppe hatte sich 
der Schmetterling entfaltet; da zwang ihn eine heftige Erkrankung (am 
28. August 1768), Leipzig zu verlassen und in sein Vaterhaus zurückzu¬ 
kehren. Eine schwere Leidenszeit fesselte ihn monatelang an das Kranken¬ 
lager; als seine körperlichen und geistigen Kräfte wieder erstarkten, wurde 
Fräulein von Klettenberg seine treue Pflegerin und Freundin; sie 
führte ihn ein in die geheimnisvollen Gänge einer schwärmerischen Mystik; 
seine Dankbarkeit erkaltete nicht und trieb ihn, dieser frommen, reinen 
Natur ein unvergängliches Denkmal zu errichten (Wilhelm Meisters Lehr¬ 
jahre: Bekenntnisse einer schönen Seele).! 
Als ein anderer Mensch ging er aus seiner Krankheit hervor; als ein zu 
Selbstbewußtsein heranreifender Mann bezog er im Frühjahr 1770 die 
Universität Straßburg, um seine juristischen Studien zu beendigen. 
Seine poetischen Versuche aus der Leipziger Zeit hatte er vernichtet; nur 
zwei kleine Dramen: „Die Laune des Verliebten" und „Die Mit¬ 
schuldigen" blieben verschont. 
Zwar betrieb er auch in Straßburg die juristischen Studien nur so 
weit, als es die Vorbereitung zur Doktorpromotion erforderte. Medi¬ 
zinische und naturwissenschaftliche Vorlesungen, der anregende Umgang mit 
seinen Tischgenossen (Jung-Stilling, Lerse), besonders aber der Verkehr 
mit Herder eröffneten ihm neue Einblicke in die Gebiete der Wissenschaft 
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