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Dramatische Poesie.
Nach ritterlichem Brauch mir Antwort geben.
— Ja, winkt nur Euren Reisigen — ich stehe
Nicht Wehrlos da Wie die — (auf das Volk zeigend)
ich hab' ein Schwert,
300 Und wer mir naht —
Stauffacher (ruft). Der Apfel ist gefallen!
<Jndem sich alle nach dieser Seite gewendet und Bertha zwischen Rudenz und den Landvogt sich geworfen, hat
Tell den Pfeil abgedrückt.)
Rösselmann. Der Knabe lebt!
Viele Stimmen. Der Apfel ist getroffen!
(Walther Fürst schwankt und droht zu sinken, Bertha hält ihn.)
Geßler (erstaunt). Er hat geschossen? Wie? Der Rasende!
Bertha. Der Knabe lebt! Kommt zu Euch, guter Vater!
Walther Tell (kommt mit dem Apfel gesprungen).
Vater, hier ist der Apfel — Wußt' ich's ja,
305 Du würdest deinen Knaben nicht verletzen.
Tell (stand mit vorgebogenem Leib, als wollt' er dem Pfeil folgen — die Arnibrust entsinkt
seiner Hand — wie er den Knaben kommen sieht, eilt er ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen
und hebt ihn mit heftiger Inbrunst zu seinem Herzen hinauf; in dieser Stellung sinkt er krafllos
zusammen. Alle stehen gerührt).
Bertha. O güt'ger Himmel!
Walther Fürst (zu Vater und Sohn). Kinder! Meine Kinder!
Stauffacher. Gott sei gelobt!
Leuthold. Das war ein Schuß! Davon
Wird man noch reden in den spätsten Zeiten.
Rudolf der Harras. Erzählen wird man von dem Schützen Tell,
310 So lang' die Berge stehn auf ihrem Grunde.
(Reicht dem Landvogt den Apfel.)
Geßler. Bei Gott, der Apfel mitten durchgeschossen!
Es war ein Meisterschuß, ich muß ihn loben!
Rösselmann. Der Schuß war gut; doch wehe dem, der ihn
Dazu getrieben, daß er Gott versuchte!
315 Stauffacher. Kommt zu Euch, Tell, steht auf! Ihr habt Euch männlich
Gelöst, und frei könnt Ihr nach Hause gehn.
Rösselmann. Kommt, kommt und bringt der Mutter ihren Sohn!
(Sie wollen ihn wegführen.)
Geßler. Tell, höre!
Tell (kommt zurück). Was befehlt Ihr, Herr?
Geßler. Du stecktest
Noch einen zweiten Pfeil zu dir — ja, ja,
320 Ich sah es wohl — was meintest du damit?
Tell (verlegen). Herr, das ist also bräuchlich bei den Schützen.
Geßler. Nein, Tell, die Antwort lass' ich dir nicht gelten;
Es wird was andres wohl bedeutet haben.
Sag mir die Wahrheit frisch und fröhlich, Tell!
325 Was es auch sei, dein Leben sichr' ich dir.
Wozu der zweite Pfeil?
Tell. Wohlan, o Herr,
Weil Ihr mich meines Lebens habt gesichert —
So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen.
(Er zieht den Pfeil aus dem Koller und ficht den Landvogt mit einem furchtbaren Blick an