Full text: Oberstufe: Erster Kursus (Teil 5, [Schülerband])

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20. Zwei Geschichten von Leuten, die Schätze fanden. 
Ein weiser Mann sagt: Es ist Gott leicht, einen Armen reich zu 
machen. Er gibt dem Frommen, was er bedarf, und was er ihm be¬ 
scheret, das gedeiht. Dem Bösen aber bringt der Reichtum keinen Segen. 
Hoch oben in Rußland, hinter Moskau, liegt ein geringes Dorf 
und in einer Strecke von dem Dorfe eine armselige Hütte. Diese Hütte 
stand einmal leer; denn der alte Mann, der sie sonst bewohnt hatte, 
war plötzlich gestorben und hatte nichts hinterlassen als eben die Hütte, 
die keine dreißig Rubel wert war, einiges hölzernes Hausgerät und 
einen geschnitzten Heiligen, an dem hier und da noch etwas Farbe zu 
sehen war; denn das meiste war in der langen Zeit verblichen und ab¬ 
gerieben. Ein Testament war nicht da, und als die Gerichte nach den 
unbekannten Verwandten fragten, meldete sich lange kein Mensch; denn 
mit Bettlern will eben niemand verwandt sein. Endlich aber kam doch 
einer, ein junger Bursche, Iwan genannt; dem waren Vater und Mutter 
gestorben, und das Häuschen, das sie ihm hinterlassen hatten, war eben 
abgebrannt, und er hatte nichts, als was er am Leibe trug, und ein 
scharfes Beil zur Arbeit. Der trat nun vor die Obrigkeit und sagte, 
er habe oft von seiner Mutter gehört, daß der Verstorbene mit ihr ver¬ 
wandt sei. Beweisen könne er es freilich nicht; aber seine selige Mutter 
habe nie eine Unwahrheit gesagt und habe dazu auch keine Ursache ge¬ 
habt. Da nun der Iwan ein so ehrliches Gesicht hatte, daß man ihm 
Lug und Trug gar nicht zutrauen konnte, das Erbteil auch einer Lüge 
nicht wert war, ließ sich der Amtmann die Hand von ihm auf seine 
Aussage geben und überlieferte ihm die Hütte mit ihrem wenigen Zu¬ 
behör. Da war nun Iwan seelenvergnügt, daß er wieder ein Obdach 
hatte, und dachte an seine Mutter, die eine so fromme Frau gewesen 
und oft zu ihm gesagt hatte: „Iwan, was du tust, habe Gott vor 
Augen und im Herzen! Sieh, ich bin jung gewesen und alt geworden, 
und nimmer hab' ich gesehen, daß Gott den Rechtschaffenen verlassen 
hat." Und wie Iwan so dachte, rollten ihm die Tränen über die 
Wangen, und er schlug an seine Brust und sagte: „So helfe mir Gott, 
wie ich meiner Mutter Willen tue!" Dann wendete er sich zu dem 
Heiligen, der ganz traurig in der Ecke stand, und als er ihn nach 
Landesgebrauch begrüßt und verehrt hatte, richtete er sich in seiner menen 
Wohnung ein, das heißr, er stellte den hölzernen Tisch an die Wand 
und den Schemel daneben und schob die leere Bettstelle in die Ecke, setzte 
sich dann nieder und beschaute die Wände ringsumher und war in 
Gott vergnügt. Hab' ich doch nun wieder ein Haus, dachte er, und 
wenn ich rechtschaffen arbeite, wird es mir auch nicht fehlen am übrigen. 
So ging es auch. Iwan ging alle Morgen an die Arbeit, und 
alle Morgen verbeugte er sich vor dem alten Bilde und so auch am
	        
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