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ich habe mehr als sechzig Ernten gewältigt.“ — Einer der Schnitter reichte
ihm eine Sense; der Greis nahm sie und mähte einen Schwaden zu
Boden wie ein rüstiger Jüngling. Und die Schnitter freuten sich und strichen
die Sensen ihm zu Ehren. Sein Enkel aber sprach: „Großvater, woher hast
du solch ein gutes Alier?“ „Sieh, mein Sohn,“ antwortete der Greis, „ich
habe von Jugend an auf Gott vertraut, in guten und bösen Tagen: dadurch
habe ich mir den frischen Mut bewahrt. Ich war stets mäßig im Genuß,
ftets rüstig an der Arbeit; dadurch gewann ich des Leibes Stärke und des
Hauses Wohlstand. Ich habe fromm vor Gott und friedlich mit den Men—
schen gelebt; dadurch habe ich mir ein ruhiges und freudiges Gemüt erhalten.
Und so bin ich noch jung und frisch in meinem Alter. Sieh zu, lieber
Sohn, daß du in deiner Jugend schon sorgst für ein glückliches Alter.“
352. An meinen Sohn Johannes.
Claudius.
Gold und Silber habe ich nicht, was ich aber
habe, gebe ich dir.
Lieber Johannes!
Die Zeit kommt allgemach heran, daß ich den Weg gehen muß, den
iß man nicht wieder kommt. Ich kann Dich nicht mitnehmen und lasse Dich in
einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist.
Niemand ist weise von Mutterleibe an; Zeit und Erfahrung lehren
hier und fegen die Tenne.
Ich habe die Welt länger gesehen als Du.
20 Es ift nicht alles Gold, lieber Sohn, was glänzt, und ich habe man—
chen Stern vom Himmel fallen und manchen Stab, auf den man sich
verließ, brechen sehen.
Darum will ich Dir einigen Rat geben und Dir sagen, was ich funden
habe, und was die Zeit mich gelehrt hat.
26 Es ist nichts groß, was nicht gut ist, und ist nichts wahr, was nicht besteht.
Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht hier nicht von un—
gefähr in dem schlechten Rock umher. Denn sieh nur, alle andere Dinge
hier, mit ihm und neben ihm, sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der
Mensch ist sich bewußt und wie eine hohe bleibende Wand, an der die
Schatten vorübergehen. Alle Dinge mit und neben ihm gehen dahin, einer
freinden Willkür und Macht unterworfen; er ist sich selbst anvertraut und
trägt sein Leben in seiner Hand.
Und es ist nicht für ihn gleichgültig, ob er rechts oder links gehe.
Laß Dir nicht weiß nmachen, daß er sich raten könne und selbst seinen
35 Weg wisse.
Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die unsichtbare sieht er nicht
und kennt sie nicht.
Halte Dich zu gut, Böses zu thun!
Hänge Dein Herz an kein vergänglich Ding!
0 Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern wir
müssen uns nach ihr richten.
Was Du fehen kannst, das sieh, und brauche Deine Augen, und über
das Unsichtbare und Ewige halte Dich an Gottes Wort!