Full text: Für Quarta und Untertertia (Abteilung 2, [Schülerband])

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123. Der vorn Blitz erschlagene Schäfer. 
(Ein Gemäldes. 
Wolfgang Müller. 
1. Wir befinden uns am Abhange eines Hügels. Rechts 
erhebt sich eine gewaltige Eiche, von der nur die mittleren Äste 
belaubt sind; die Krone sieht man nicht, aber man darf vermuten, 
daß sie dürr war. Der Blitz hat sie gebrochen und ihre Zweige 
heruntergeschleudert; sie liegen brennend und mächtige Rauchwolken 
entwickelnd hinter dem Stamme. Links neben der feurigen, qual¬ 
menden Glut erblickt man ein Stück Himmel, an dem die dunkeln 
Gewitterwolken schwer und düster fortziehen wie böse Geister, die 
eine schlimme Tat gesehen haben. Darunter dehnt sich ein Wiesen¬ 
grund aus, der im saftigsten Sommergrün prangt; mächtiger 
Hochwald umsäumt ihn, ein Sonnenstreif spielt darüber. Während 
man im Vordergründe eine trübe, unheilvolle Szene erblickt, ver¬ 
söhnt der Künstler die Seele, indem er den Hintergrund mit hellem, 
milderndem Lichtglanze übergießt. 
2. Das ist der Ort, auf dem sich das traurige Schauspiel 
zeigt. Am Fuße der Eiche liegt der Leichnam des erschlagenen 
Schäfers, bleich, totenstarr, gebrochen in der Kraft seiner blühen¬ 
den Jahre. Unvorhergesehen traf ihn der Tod. Die Züge sind 
friedlich, ohne allen Ausdruck von Angst; im Gegenteil, ein mildes 
Lächeln umspielt noch die Mundwinkel. Ein Mann von kräftiger 
Gestalt ist hinzugekommen; das Haupt des Toten liegt auf seinem 
Schoße, mit der rechten Hand umfaßt er ihn. Der Künstler läßt 
es ungewiß, ob er damit nach dem Herzen gefühlt habe, um den 
Pulsschlag zu untersuchen, oder ob er beabsichtige den Toten zu 
halten. Sein Gesicht wendet sich nach der Gruppe, mit der Linken 
weist er gegen den Himmel, woher der Schlag kam. Vor dem 
Schäfer kniet, dem Zuschauer den Rücken kehrend, eine Frau; 
man sieht nur wenig von ihren Gesichtszügen. Links von ihr er¬ 
blicken wir das Weib des Erschlagenen. Sie ist von der Feld¬ 
arbeit herbeigerannt und vor der Leiche in die Knie gesunken; ihr 
Haar hat sich in der Hast gelöst; sie greift mit beiden Händen nach 
dem Kopfe, der ihr vor Schrecken springen möchte; ihre Augen starren 
weit aufgerissen nach dem Toten; ein Schrei des Entsetzens dringt 
aus dem geöffneten Munde. Sie kann den Schlag, der sie getroffen, 
nicht fassen; es ist ganz der Ausdruck der Angst, von der man 
nicht weiß, ob sie weichen wird, von welcher man fürchtet, daß sie 
i) Beschreibung eines Bildes des Malers Jakob Becker (1810—1872), 
das sich im Städelschen Institut zu Frankfurt a. M. befindet.
	        
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