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noch Fassung bewahre - zugleich aber ringt sich ein Seufzer, ein Stöhnen
der Angst aus der gepreßten Brust, und das Zusammenziehen der
Brauen, das Zucken der Augenlider, namentlich der unteren, ein der
Natur in größter Feinheit abgelauschter Zug, verkündet uns einen im
nächsten Augenblick hervorbrechenden Strom heißer, unwillkürlicher
Tränen. Sn jenem Blick verkündet sich die Heldin, in diesen Tränen
unterwirft sich die Kreatur überirdischer Gbmacht. Nun wird sie ihr
Haupt verhüllen, und wenn die nächsten Augenblicke die Kinder alle
um die Mutter dahingestreckt haben, wird Niobe dastehen, göttlich groß
und menschlich edel, erstarrt, zu Stein geworden vor dem Übermaß
des Schmerzes. 6. rv. Becker.
Albrecht Dürer.
Die freie Neichsstadt Nürnberg, inmitten des „heiligen Römischen
Reiches deutscher Nation" gelegen, steht im fünfzehnten Jahrhundert
auf dem Höhepunkt ihrer Macht. War ihre Umgegend von der Natur
stiefmütterlich bedacht, so war ihre Lage der Entwicklung des Handels
um so förderlicher - verband sie doch die Hansestädte im Norden Deutsch¬
lands mit Venedig, wo die Produkte fernster Länder ausgetauscht und
abgesetzt wurden. Lin selbstbewußter Kausmannsstand nahm die leitende
Stellung ein, das Handwerk war zu großer Blüte gediehen. Die treue
Freundschaft, die man stets dem Kaiser erwiesen, hatte dem Handel
manchen Vorteil gebracht, und in diesem blühenden Gemeinwesen war
auch für die Kunst eine freie Stätte, verrieten die mächtigen Kirchen
von St. Sebald und St. Lorenz, die zierliche Kapelle Unserer lieben
Frau mit ihrer entzückenden Vorhalle den stolzen Bausinn des Ma¬
gistrats, so zeugten die Bilder, die allerorten als fromme Stiftungen
auf den Altären prangten, vom Reichtum der Bewohner, die es in
naivem Selbstbewußtsein nicht vergaßen, ihr eigenes Porträt der dar¬
gestellten Szene beifügen zu lassen.
Angezogen durch den Weltruf dieser Stadt, hat sich Dürers Vater,
der aus Ungarn eingewanderte Goldschmied, in Nürnberg niedergelassen
und dort seinen eigenen Hausstand gegründet. Am 21. Mai 1471
wird ihm hier als zweiter Sohn Albrecht geboren, dessen Kunst und
Persönlichkeit uns als der Inbegriff echten Deutschtums gilt. Lr selbst
erzählt uns von seinem Vater, daß er „sein Leben mit großer Müh
und schwerer, harter Arbeit zugebracht und von nichten anders Nahrung
gehabt, dann was er vor sich, sein Weib und Kind mit seiner Hand ge¬
wannen hat. Darum hat er gar wenig gehabt." So zeigt das Bild,
das Dürer von seinem Vater gemalt hat, einen Mann, der gewohnt
ist, energisch zuzugreifen, und in dessen Antlitz das Leben seine Spuren
gegraben hat.