Full text: [Teil 5 = Obertertia, [Schülerband]] (Teil 5 = Obertertia, [Schülerband])

38. Vom italienischensVolkscharakter. 189 
unglaublich, und wenn einmal einer leer geht, dann hocken 
gewiß sechs bis acht Kerle darauf, damit der arme Esel es 
ja nur nicht einmal leichter hat. Bei starken Steigungen 
abzuspringen fällt niemand ein. Dabei haben sie eine bar¬ 
barische Zäumung, die dem Tiere mit einem Ruck einen Metall- 
bügel auf die Nase drückt und es sofort zum Stehen bringt. 
Selbst offne Wunden bleiben unbeachtet, und gewöhnlich 
sehen die Tiere vor Lastwagen auch abgetrieben genug aus. 
Diese Grausamkeit ist offenbar noch ein Erbteil der alt¬ 
römischen Zeit mit ihren rohen, blutigen Tierhetzen und Gla¬ 
diatorenkämpfen. Die Kirche scheint nichts oder nicht genug 
dagegen zu tun, hat doch das Tier „keine Seele". In neuerer 
Zeit hat sich ein Tierschutzverein in Neapel gebildet, der 
allmählich vielleicht etwas ausrichten wird. 
Und doch ist der Italiener auch der niedern Stände 
keineswegs roh; im Gegenteil sieht man Szenen von Roheit 
so gut wie gar nicht, auch wenn es sehr lebhaft und laut 
zugeht. Er hat eben einen äußerst lebhaften Geselligkeits¬ 
trieb, befindet sich am wohlsten, wenn er mit andern zusam¬ 
men ist, gönnt daher auch jedem andern das hohe Maß 
von freier Bewegung, das er für sich selber beansprucht. 
Daraus entwickeln sich wieder das höfliche und gefällige Wesen, 
die schnelle Auffassungsgabe, die Gewandtheit im Benehmen 
und im Ausdruck, und das alles hängt zusammen mit dem 
lebhaften Kunst- und Formensinn, dem überwiegend sozusagen 
ästhetischen Grundcharakter des Volkes, den eine mehrtausend¬ 
jährige Kultur ausgebildet hat. Derselbe Bursche, der sein 
Pferd mißhandelt, schmückt es aufs sorgfältigste, läßt — am 
meisten gerade in Neapel — das an sich schon reiche Geschirr 
mit zahllosen blinkenden Metallbeschlügen besetzen, steckt ihm 
bunte Fasanenfedern oben auf den Kopf, befestigt rote Quasten 
und Fuchsschwänze an der Zäumung und wird schwerlich die 
Gelegenheit versäumen, unterwegs noch eine Blume irgendwo 
anzubringen. Selbst die im Lastgeschirr gehenden Tiere tragen 
im Neapolitanischen auf dem Sattel, der die sehr hochliegende 
schwere Gabel hält, eine Art von hohem, glänzendem Metall¬ 
schild mit beweglichen Fähnchen, und die großen Räder werden 
schön rot und blau bemalt. Nicht minder zeigt sich dieser 
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