Full text: (Prosa) (Teil 7 - 9 in 1 Bande, [Schülerband])

in Nom ausübte, nicht aufkommen. Ein Zufall ist es indessen nicht, 
daß Sokrates in seinen induktiven Katechesen regelmäßig mit dem Hand¬ 
werk anfängt, und von dem nüchternen Witz des Kleinbürgers, der 
sich nicht gern imponieren läßt, hat der Sohn des Steinmetzen und der 
Hebamme ein gut Teil mitbekommen. Es war attische Art, daß er 
sich keine Vergewaltigung durch noch so gepriesene Autoritäten gefallen 
ließ, sondern verlangte, überzeugt zu werden, wenn er glauben sollte. 
Jeder Athener war stolz daraus, daß sein Staat ein Rechtsstaat war, 
in dem die Gemeinde der Bürger überredet werden mußte, wenn sie 
einen Beschluß fassen, einen Spruch fällen sollte, in dem ferner der 
Beamte der Rechenschaft fordernden Gemeinde Rede und Antwort zu 
stehen hatte. So gering Sokrates von der Demokratie dachte, in der 
nicht der Wissende regierte, darin war er doch attischer Demokrat, daß 
er unbarmherzig Rechenschaft verlangte, sobald ihm ein Anspruch auf 
Überlegenheit entgegentrat. Dabei verließ ihn die feine Grazie des 
Umgangs nicht, die ebenfalls eine Frucht der attischen Gleichheit zwischen 
den Bürgern ist. Der Athener spricht nicht von Demokratie, sondern 
von Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz; Gleichheit und Gerechtigkeit 
sind ihm identische Begriffe. Diese Ideen haben die Formen und die 
Sprache der Gesellschaft beherrscht, die sich in der Hauptstadt eines 
großen Reichs, dem Mittelpunkt des griechischen geistigen Lebens im 
fünften Jahrhundert bilden mußte und gebildet hat: es gibt keine Kon¬ 
versationssprache, welche die eigene Behauptung so höflich ausdrückt 
und den Schein des Apodiktischen, der Arroganz so sorgfältig ver¬ 
meidet wie der attische Dialekt. Zugleich saß dem viel und gern sprechen¬ 
den Völkchen stets der Schalk im Nacken, und nichts war gefährlicher 
als den „Feierlichen", wie man attisch sagte, zu spielen und den Wissenden 
herauszukehren: gerade dies fand man an der ionischen Wissenschaft 
unausstehlich. Der Kluge muß sich verstellen, und wer überlegen bleiben 
will, der tue, als wisse er nichts, verstehe nichts und sei überhaupt 
nichts Besonderes: das ist jene Kunst des persönlichen Auftretens, jener 
den Gegner von vornherein entwaffnende Witz, den der Athener mit 
dem unübersetzbaren Wort „Ironie" bezeichnet. Wie Sokrates das 
verstanden hat, das wissen wir durch Plato: man soll aber nicht ver¬ 
gessen, daß diese sokratische Ironie nur die individuelle Varietät eines 
echt attischen, auf dem Boden der Demokratie gezüchteten Ge¬ 
wächses war. 
Allerdings nehmen diese eben gekennzeichneten attischen Eigen-
	        
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