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Zeiten der Krankheit selbst empfangen. Es gilt, Mädchen, die in frühester
Jugend zu eintöniger, freudloser Arbeit in der Fabrik gezwungen sind, in
den Abendstunden in Arbeiterinnenheimen zu belehren, zu unterhalten,
ihnen die Freude an allem Guten und Schönen nahe zu bringen. In allen
solchen Anstalten sind Beamte, Leiterinnen und Pflegerinnen so überlastet,
daß sie oft über das Notwendige hinaus ihren Schützlingen keine Fürsorge,
keine Pflege angedeihen lassen können. Aber unter ihrer Leitung arbeiten
freiwillige Helferinnen, die dazu jede Stunde benutzen können, in der sie
zu Hause nicht gebraucht werden, in der sie nicht mit der eigenen Aus¬
bildung beschäftigt sind, sofern sie sich nur für einige Stunden oder Tage
in der Woche für einen solchen Dienst verpflichten. In Vereinen für
Armenpflege können ältere und erfahrenere Mädchen den Bedürftigen Rat
und Hilfe bringen; in Vereinen für die schulentlassene Jugend können sie
Beraterinnen bei der Berufswahl von Kindern werden, in Arbeitsnachweisen
bei der Vermittlung von Lehrstellen behilflich sein.
In jeder großen Stadt finden sich Frauenvereine, die sicherlich jungen
Mädchen behilflich sein können, solche Arbeit zu finden, und die imstande
sind, die jungen Mädchen in der ersten Zeit anzuleiten und ihnen die für
diese Arbeit notwendigen Kenntnisse zu vermitteln.
Wohl wenden viele sich diesen sozialen Bestrebungen nicht zu, weil
das, was ihnen zunächst offensteht, zu klein und zu unbedeutend erscheint;
weil sie nicht verstehen können, daß man auch durch die Erfüllung solcher
kleinen Pflichten einen Dienst für die Menschheit leistet. Aber dabei
übersehen sie, daß alle großen Leistungen nur aus tausend kleinen, müh¬
seligen und unbedeutenden Handlungen hervorgehen, daß auch für die
Entwicklung der Menschheit zu immer höheren Stufen, für „den großen
Bau der Ewigkeiten“ niemand etwas anderes tun kann, als Sandkorn an
Sandkorn zu reihen. Die soziale Hilfstätigkeit aber, die Wunden heilt und
Gefahren verhütet, wird gerade den jungen Mädchen die beste Gelegenheit
geben, ihre besonderen Kräfte zu nutzen, ihre innersten Anlagen zu be¬
tätigen und deshalb anderen etwas zu sein. Sie führt sie dazu, Liebe und
Hingebung zu üben, den Reichtum ihres Herzens auszuschütten vor all den
vielen, die danach begehren. Sie lehrt sie, von der großen Sehnsucht
unserer Zeit nach persönlichem Leben einen Hauch zu spüren, wenn sie,
zur vollen Seligkeit mitfühlender Liebe erweckt, für den unerschöpflichen
Reichtum, den ganzen Zauber menschlicher Hilfe gewonnen werden. Und
wer einmal im Verkehr mit Armen und Bedrückten Hilfsbereitschaft geübt
hat, der weiß, daß die soziale Arbeit unsere Liebesfähigkeit, unser Verstehen
und Mitempfinden auch auf allen anderen Lebensgebieten steigert, daß sie
uns „ein Paradies auf Erden ausschließt“.