Kunst und Leben
36. über das Ansehen von Bildern.
1.
Ehe man den Kunstwert von Gemälden oder Zeichnungen
ermessen kann, mutz man verstehen Bilder anzusehen. Zum
Ansehen gehört noch keine besondere ästhetische Begabung, sondern
nur Geduld und guter Wille. Selbstverständlich mutz jedes Bild
auf seine eigene Weise angesehen werden. Bei manchem genügt
ein Blick, während bei andern mehrmalige ernstliche Vertiefung
nötig ist. Das Ansehen wird sehr unterstützt, wenn man imstande
ist, sich dadurch von einzelnen Teilen des Bildes genauere Rechen¬
schaft zu geben, datz man sie abzeichnet, und sei es nur mit
wenigen Strichen. Aber auch, wer gar nicht zeichnen kann, wird
es lernen, den tatsächlichen Inhalt von Bildern zu erfassen, so¬
bald er einige gute ältere und neuere Malereien genau und ein¬
dringlich anzusehen sich die Mühe nimmt.
2.
Alles menschliche Verständnis ruht auf Erinnerung. Wer also
Verständnis für Bilder gewinnen will, mutz sein Erinnerungs¬
vermögen für sichtbare Dinge pflegen. Es ist kaum glaublich,
wie schlecht das Gedächtnis vieler Menschen gegenüber aller
Sichtbarkeit arbeitet. Dieselben Leute, die genau wissen, wie der
Engländer dieses oder jenes Wort ausspricht oder wie hoch die
Zahl der preutzischen Truppen bei Prag war, wissen nicht, ob
ihr Haus ein Ziegeldach oder Schieferdach besitzt, und ob bei
der Kirche ein Ahornbaum oder eine Linde steht. Begreiflicher-