22. Was sieht man durch das Mikroskop?
133
Gravesend*) 50 und im Kreidekalk vom Antilibanon 40 verschiedene
Arten.
Wir treten hin zur Pflanzenwelt. Da ist ein klarer, schnellfließender
Bach; sein Grund ist von einem saftgrünen Rasen überzogen, der durch die
sich verfilzenden und verschlingenden Zweige einer Alge gebildet wird. In
den ersten Zeiten des erwachenden Frühlings lösen wir ein Stuückchen Rasen
ab, um es daheim zu beobachten. Wir entwirren behutsam einige Fäden,
und das Mikroskop zeigt uns, daß sie aus einfachen oder bei andern Arten
aus in Zellen geteilten Schläuchen bestehen, in welchen Kügelchen oder
Körnchen liegen. Diese, Sporen genannt, fangen, wenn ihre Zeit gekommen
ist, an, in ihrem Gefängnisse so lange zu drängen, bis sie dessen Wände
zersprengt haben; sie treten aus, einzeln oder in Haufen, und geraten als—
hald in lebhafte Bewegung, fahren im Wasser hin und her, tauchen auf und
ab, daß man meinen möchte, die Pflanze habe ein Tier geboren. Aber
nein — es ist etwas anderes. Das merkwürdige Ding rudert allerdings
mittelst zarter, lebhaft sich bewegender Härchen oder Wimpern wie mit
Schwimmfüßchen; aber seine Bewegung ist eine völlig willenlose, sein Herum—⸗
schwärmen hängt von tausend Zufälligkeiten ab; es steuert auf entgegenstehende
Hindernisse gerade los und bleibt an der Wand des Gefäßes oft hängen, wo
die mit willkürlicher Bewegung begabten Geschöpfe schnell zurückprallen würden.
Nachdem die Spore sich 10 bis 20 Minuten herumgetummelt hat, wird ihr
Lauf immer langsamer, endlich kommt sie zur Ruhe; die Bewegungen der
Wimpern hören auf; diese selbst verschwinden, die Spore nimmt die Kugel⸗
form an, sie bekommt an mehreren Seiten Fortsätze und wächst zur Alge
aus. Die Spore ist ein Pflanzenkeim. Und wie groß ist eine solche Spore?
Nun, mit bloßem Auge kann man sie schwerlich sehen, bei 400facher Ver—
größerung aber erscheint sie so groß wie ein Kirschkern und fast ebenso
gestaltet. Wie aber diese ersten Regungen einer Pflanze, ebenso zeigt uns
das Mikroskop die Geheimnisse ihrer höchsten Entwickelung. Es belehrt uns
über das Wesen der Befruchtung; mit seiner Hilfe erfahren wir, welche
Funktionen den einzelnen Teilen der Blüte zukommen. Und aus der
Gesamtheit solcher Anschauungen klärt sich unsere Vorstellung vom Wesen
der Pflanze, und in der Erkenntnis ihrer Bedürfnisse und Verrichtungen
finden wir die Mittel, auf rationelle Weise Wachstum Blüte und Frucht zu
begünstigen, schädliche Einflüsse abzuwehren und nach unsern Zwecken die unent—
behrliche Thätigkeit des Pflanzenreichs zu erhöhen. Erst durch den Gebrauch des
Mikroskops ist uns die Zelle als Elementarbestandteil der Pflanze bekannt
geworden.
Was uns als widriger Schimmel an Brot und anderen Speisen begegnet,
verwandelt sich unter dem Mikrostope in den zierlichsten Wald von größerem
Formenreichtum als alle unsere Laub- und Nadelwälder. Nicht nur die
Kartoffelkrankheit, sondern sogar tierische und menschliche Krankheiten, wie
*) spr. Grehws send.