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81. Der Lfeu.
Und was hat der Efeu droben auf dem Fels alles umrankt und
geschmückt seit alter Zeit! Zuerst den alten Baum, dann das Hüttchen
des Einsiedlers, der hier ein Kreuz aufgerichtet hatte, um davor zu
beten, und der im Walde Arzneikräuter suchte für die kranken Leute
5 drunten im Dorfe. Dann stand dort eine Ritterburg mit festem Turm
und Tor. Der Efeu kletterte an der Mauer empor und schaute hinein
durch die Schießscharten in den Hof. Dort gab der alte Ritter seinen
Knaben täglich Unterricht im Reiten und Fechten. Danach ward aus
der Burg ein Mönchskloster. Der Efeu marschierte» auch an diesem
10 empor und schaute durch die runden Fensterscheiben in die Zellen
und in die Kapelle. Da saßen die Männer und lasen in dicken, in
Schweinsleder gebundenen Büchern: lauter Latein und Griechisch.
Andere malten saubere Buchstaben, vergoldeten sie und zeichneten
zierliche Ranken von Efeublättern darum, Engel und Vögel darauf mit
15 roten und blauen Flügeln.
Jetzt steht auch das Kloster nicht mehr auf dem Felsberge, nur
noch einige Mauern sind übrig und von der Kirche zwei Säulen;
aber der Efeu ist noch da und hat alles umsponnen, auch die be¬
moosten Grabsteine, unter denen die Äbte schlafen, und die ver-
20sunkenen Steinkreuze mit der abgewetterten Schrift. Von dort hat
der Onkel den Zweig abgebrochen und ihn im Blumentopf in gute
Gartenerde gepflanzt. Er hat den Kindern befohlen, daß es dem Efeu
nie an Wasser fehle, und daß seine Blätter jeden Sonnabend mit dem
Schwamm und lauem Wasser rein abgewaschen werden; er hat für
25 die Mutter eine grüne Laube daraus geformt, damit sie am Festtag
sich hineinsetze und im Grünen im Evangelienbuche lese.
Draußen im Walde blüht der Efeu fast jedes Jahr. An den
Blütenzweigen formt er die Blätter ganz anders als gewöhnlich. Sie
haben keine Zacken, sondern sind länglich und schmal, fast wie bei
30 der Kornelkirsche. Die Blüten haben freilich weder schöne Farbe
noch süßen Geruch, nur fünf grünliche Blumenblättchen und ebenso-
viele kleine Staubgefäße. Ebenso sind auch die Beeren unansehnlich
grün und im Alter schwärzlich; kein Mensch mag sie essen. Nur
Vögel verzehren sie und sorgen für die Verbreitung der Samen. Desto
35schöner aber sind dafür beim Efeu die Blätter, zierlich drei- oder
fünfzackig, glänzend dunkelgrün wie lackiert und wunderniedlich mit
hellen Adern gezeichnet. Wenn alle anderen Sträucher und die Laub¬
bäume des Waldes im Herbst ihre Blätter verfärben — so bleibt der