Full text: [Teil 7 = Klasse 3, [Schülerband]] (Teil 7 = Klasse 3, [Schülerband])

115. Das Cterleben der Großstadt* von «uibeim Boitcbe. 
Von Sonnen und Sonnenstäubchen. Volksausgabe. Berlin 1905. 8. 347. 
or so etwa zehn Jahren wurde in der Weltstadt Paris 
ein gar seltsamer Fang gemacht. 
Es war in den bekannten großen Weinmagazinen 
des linken Seineufers. Arbeiter hatten längst schon 
nächtlicherweise einen gespenstischen Schatten mit langer 
Schnabelnase herumhuschen sehen. Man fahndete endlich 
systematisch auf den Kobold, und im grellen Laternen¬ 
schein fand sich im Versteck hinter roten Bordeauxfässern — ein Kiwi. 
Der Kiwi, ein Strauß, von der Größe eines Hahns, lebt in den 
Farndickichten Neuseelands. Er ist der überlebende Verwandte der riesigen 
Moas, deren Knochen heute noch, dick fast wie die von Elefanten, in den 
Höhlen dieser geheimnisvollen Südseeinsel liegen. Dieses Pariser Exemplar 
war aber aus dem benachbarten Jardin des Plantes entsprungen, und 
zwar schon geraume Zeit vorher. Die Gelehrten der Direktion hatten es 
schmerzlich beklagt und den nicht unbeträchtlichen Preis des seltenen Vogels 
auf ihr Verlustkonto gebucht. Ihm aber gefiel die „freie Großstadt" an 
einer ihrer unsolidesten Stellen, und er überwinterte ohne Beschwerde hinter 
den Fässern der Hallo aux vins, die ihm lange Zeit ein ebenso gutes 
Versteck boten, wie seine neuseeländischen Farnkrautwurzeln. 
Diese kleine Geschichte ist lehrreich für das allgemeine Verhältnis von 
Tier und Großstadt auf der Erde. 
Unsere Großstädte sind durch die Bedürfnisse der menschlichen Intelli¬ 
genz zu einer Art Arche Noah geworden. Tiergärten und Aquarien holen 
die Tierwelt unseres ganzen Planeten wie in einen Brennpunkt zusammen. 
Es sind Tiere dabei, wie der nordamerikanische Bison und die Riesenschild¬ 
kröte der Insel Aldabra, die in kurzer Frist in ihrer Heimat ausgerottet 
sein und dann nur noch als buchstäbliche Großstadttiere existieren werden. 
Was die Wissenschaft aber nicht schafft, das bringt der Handel, bald 
mit, bald ohne ausdrückliche Absicht. 
Gleich jenem Kiwi ist in Danzig die große, ausgesucht scheußliche 
brasilianische Vogelspinne plötzlich aufgetaucht, wahrscheinlich eingeschleppt 
mit importierten Hölzern. 
Im Jahre 1766 entstand in Paris auf offener Straße eine Panik, 
weil ein Wesen daherschwirrte, das ein grasgrünes Licht mit der Helligkeit 
einer Laterne fliegend ausstrahlte. Offenbar war das in dieser Zeit 
miserabler Straßenbeleuchtung ein sehr außergewöhnliches Ereignis — heute 
fürchte ich, daß man es auf der Leipziger Straße in Berlin gar nicht 
bemerkt hätte. Es war der Cucujo, der riesige Leuchtkäfer der Havana, 
der ebenfalls mit amerikanischem Holz als „blinder Passagier" herüber¬ 
gekommen war. 
14*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.