Vilmar: „Die Siegfriedsage".
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des Sterbenden gegangen, und um ihretwillen wendet er sich abermals und zum
letztenmal an seine Mörder, ihr die letzte Sorge, den letzten Gedanken, den
letzten Atemzug widmend: „Wollt ihr," redet er Günther an, „edler König, noch
einmal in eurem Leben gegen jemand Treue beweisen, so laßt euch meine liebe
Traute befohlen sein; laßt es sie genießen, daß es eure Schwester ist, sorgt für
sie treulich, wie es Fürstensitte gebietet. Auf mich warten lange mein Vater
und meine Mannen." Weit umher sind die Waldblumen von dem Blute des
Erschlagenen rot genetzt; jetzt beginnt der Todeskampf; doch nicht lauge ringt
er: die Todeswunde ist zu schwer. — Siegfried ist tot. — Da heben die
Herren den Leichnam des Helden, alter Sitte und Ehre gemäß, auf einen gold¬
roten Schild und tragen ihn gen Worms an dem Rheine. Manche reden davon,
daß man sagen soll, Räuber hätten ihn erschlagen, um den Schandfleck des
Verwandtenmordes zu verhehlen: „Ich will", ruft Hagen, „ihn selbst nach
Worms bringen, was kümmert es mich, wenn Kriemhild erfährt, daß ich ihn
erschlagen habe: sie hat Brunhild so schwer gekränkt, nun achte ich es gering,
sie mag weinen, so viel sie will."
11. Die Bestattung.
Ja, der Entsetzliche läßt den Toten, sowie man in der Nacht zu Worms
angekommen ist, vor die Türe des Hauses legen, in dem Kriemhild wohnte,
wohl wissend, daß sie selbst gleich am frühen Morgen, wenn sie ihrer Ge¬
wohnheit nach zur Mette gehe, ihn da finden werde. Furchtbar gelingt die
Freveltat. Ein Kämmerer geht mit der Leuchte voran und sieht den Leichnam.
„Frau," sagt er, „stehet stille, da liegt vor dem Gadem ein erschlagener Ritter."
Ein lauter Schrei des Entsetzens ist Kriemhilds Antwort; sie weiß, wer da
erschlagen liegt, ohne daß man es ihr gesagt hat, und als sie den Erschlagenen
sieht, so tief er vom Blut übergössen ist — sie kennt wohl auch im bleichen
Fackelschein die Heldengestalt und die edlen, im Tod erstarrten Züge. „Du
bist ermordet," ruft sie, „dein Schild ist nicht zerhauen! Dem gilt es den
Tod, der das getan!" Siegfrieos Mannen und Siegfrieds Vater werden
geweckt; lauter Jammer erfüllt weit und breit die Säle und Höfe, und zur
Rache scharen sich die Getreuen des erschlagenen Helden. Kaum daß Kriemhild
warnen und abwehren kann; es sei jetzt noch nicht Zeit zur Rache — dereinst
werde sie kommen. Als der Tote auf der Bahre liegt, kommen die Könige,
ihre Brüder, und die Verwandten; auch Hagen tritt ohne Scheu hinzu.
Kriemhild aber wartet an der Bahre des Bahrrechts — einer Volkssitte und
eines Volksglaubens, der noch heute nicht ausgestorben ist: wenn der Mörder
dem Gemordeten nahe trete oder gar dessen Leichnam berühre, so, glaubt man, öffnen
sich die Wunden, und das Blut fließe von neuem — und als Guntber ihr eben ein¬
zureden sucht, fremde Mörder hätten ihn erschlagen, da tritt Hagen heran, und
die Wunden fließen. „Ich kenne die Räuber wohl," ruft die Arme, „und Gott
wird die Tat an ihnen rächen." Der Leichnam ist eingesargt und wird zu
Grabe getragen; Kriemhild folgt, mit unnennbarem Jammer bis zum Tode
ringend. Noch einmal aber begehrt sie das schöne Haupt des Geliebten zu sehen,
und der köstliche Sarg, aus Gold und Silber geschmiedet, wird aufgebrochen.
Da führt man sie herbei, und mit ihrer weißen Hand hebt sie noch einmal das
Heldenhaupt empor und drückt einen Kuß auf die bleichen Lippen. Man trug
sie von dannen. Der edele Held wurde begraben.