Object: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

— 48 
oder buntbemalten Bielkcimerli ans der Schulter, den Zug. Ihm folgen 
die schönsten und größten Kühe mit den fußhohen, messingblechenen „Trychlen" 
(Glocken), die an breiten, ledernen, mit allerhand farbig ausgenähtem Putz¬ 
werk versehenen Halsbändern hängen. Diese Glocken, deren gewöhnlich nur 
drei bei einem Zuge sind, bauchen oberhalb am Henkel ziemlich breit aus, 
oft einen Fuß im Durchmesser, laufen nach unten schmaler zusammen und 
verursachen solch einen heillosen, trommelähnlichen-alarmierenden und doch 
nicht unharmonischen Lärm, daß man ihn bei geeigneter Luft eine Stunde 
weit hört. Man legt diese Riesenschellen den Kühen nur für die Dauer 
an, während welcher der Zug durch die Dörfer geht, um Pracht mit der 
Herde zu treiben und alles Volk herbeizulocken. Ist dieser Zweck erreicht, 
dann wird dieses gewichtige Spectakel- Instrument den Kühen wieder vom 
Halse genommen, weil erfahrungsgemäß das lange Tragen derselben den 
Lungen der Thiere nachtheilig ist. 
Jetzt entstehen in den Dörfern, durch welche der Zug kommt, völlige 
Volksaufläufe; denn Alt und Jung will des „Franz-Antony-Lismer-Seppelis" 
schönen „Chüena" (Kühe) die Revue passieren lassen und mit Kennermiene- 
deren Bau und „G'schlachtheit" prüfen. Blökend und springend, gleich 
als ob sie es wisse, daß es hinaufgehe zu den gcwürzigen, nahrhaften Alp- ' 
weiden, folgt nun, in lange Reihen aufgelöst, die ganze Herde der Kühe, 
Galtlingc, Ziegen und Lämmer, — mitten darunter brummend und mürrisch' 
der Zuchtstier, heute der Sündenbock des allgemeinen Spottes; denn der 
Volkswitz bindet ihm altherkömmlich den Melkstuhl, mit Blumen geschmückt, 
zwischen die Stirngabel der Hörner. Neben dem Zug gehen im leinenen 
Futterhemd und in der groben Zwilchhose der „Gaumer" (Hirt) und der 
„Handbub", dem Zusenn mit „Juchz'gen" und Jodeln secundierend. Den 
Schluß endlich bildet das Saumroß mit den Käserei -Geräthschaften und 
der Herdenbesitzer in unverkennbarem Selbstbewußtsein des augenblicklich 
zu feiernden Triumphes. 
Im allgemeinen bleiben Weiber und Kinder in den Thaldörfern zurück. 
Aber es gibt in Graubünden, z. B. im Davos und in Mutten, sowie 
in Wallis, Ortschaften, die mit Kind und Kegel ins Sommerdorf auswandern, 
und ihren Winteraufenthalt, die Häuser verschlossen, vollständig verlassen; 
— höchstens daß ein alter Mann als Wächter zurückbleibt. — So geht's 
hinauf auf die Berge, in die Alpen. 
Das ist die malerische, fröhliche Seite eines Alpenfahrt-Bildes. Aber 
es gibt auch Herden-Expeditionen im Hochgebirge, bei denen es nicht nur 
beschwerliche Passagen zu überwinden, sondern Kräfte und Umsicht zu 
brauchen, ja sogar das Leben zu riskieren gilt. Dies ist vornehmlich der 
Fall, wenn die Alpweide jenseit eines Gletschers liegt und es gilt, die 
schlüpfrige Eisfläche mit ihren verborgenen Spalten und Schründen zu 
überschreiten. Da bedarf es denn besonderer baulicher Vorkehrungen; mit 
Hülfe des Pickels und der Axt hat man Stege und Bretterbrückcn ge¬ 
baut, oder Wege durch die Eislabyrinthe gebahnt und mit sandigem Geröll 
und Erde bestreut, um dem Vieh den Widerwillen gegen das ihm un¬ 
heimliche, fremde und trügerische Element zu benehmen. Oft^ sträubt sich 
die Herde mit unverwüstlichem Trotz, die glasige Eisspiegelfläche zu be¬ 
treten, und die Sennen sind genöthigt, zu den verzweifeltsten Zwangsmitteln
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.