Full text: Prosalesebuch für Untertertia der Vollanstalten oder Klasse III der Realschulen (Teil 4, [Schülerband])

Der grimme Hagen aber höhnt die Klagenden und zugleich den 
schmählich Ermordeten: „Ich weiis nicht, was ihr klagt; nun hat 
ja alles ein Ende, was wir an Leid und Sorgen getragen haben; nun 
leben nur noch wenige, die gegen uns aufzutreten wagen dürfen; 
wohl mir, dass ich gegen diesen da Rat geschafft!“ Da geht der 
Name der treuen Gattin dem Sterbenden über die Lippen, und 
um ihretwillen redet er zum letztenmal König Günther an. „Wollt 
Ihr, edler König, noch einmal in Eurem Leben gegen jemand 
Treue beweisen, so lasst Euch meine liebe Traute befohlen sein; 
lasst es sie gemessen, dass sie Eure Schwester ist, und sorgt für 
sie treulich, wie es Fürstensitte gebietet.“ Dann sinkt er sterbend 
in die Blumen. 
5. 
In der Nacht wird Siegfrieds Leichnam über den Rhein ge¬ 
führt. Der entsetzliche Hagen lässt den Toten, sowie man zu 
Worms angekommen ist, vor die Tür des Hauses legen, in dem 
Kriemhild wohnt, wohl wissend, dass sie selbst gleich am frühen 
Morgen, wenn sie ihrer Gewohnheit nach zur Mette gehe, ihn da 
finden werde. Furchtbar gelingt die Freveltat. Ein Kämmerer geht 
mit dem Lichte voran und sieht den Leichnam. „Frau,“ sagt er, 
„stehet stille, da liegt vor dem Gadern ein erschlagener Ritter.“ 
Ein lauter Schrei des Entsetzens ist Kriemhilds Antwort; sie weiss, 
wer da erschlagen liegt, ohne dass man es ihr gesagt hat; und als 
sie den Erschlagenen sieht, so tief er vom Blut übergössen ist — 
sie kennt wohl auch im bleichen Fackelschein die Heldengestalt 
und die edlen, im Tode erstarrten Züge. „Du bist ermordet,“ ruft 
sie, „dein Schild ist nicht zerhauen I Dem gilt es den Tod, der das 
getan!“ Siegfrieds Mannen und Siegfrieds Vater werden geweckt; 
lauter Jammer erfüllt weit und breit die Säle und Höfe, und zur 
Rache scharen sich die Getreuen des erschlagenen Helden, kaum 
dass Kriemhild warnen und es wehren kann: es sei jetzt noch nicht 
Zeit zur Rache, dereinst werde sie kommen. Als der Tote auf 
der Bahre liegt, kommen die Könige, ihre Brüder, und die Ver¬ 
wandten; auch Hagen tritt ohne Scheu hinzu. Kriemhild aber 
wartet an der Bahre des Bahrrechts — einer Volkssitte und eines 
Volksglaubens, der noch heute nicht ausgestorben ist: wenn der 
Mörder dem Gemordeten nahe trete oder gar dessen Leichnam be¬ 
rühre, öffneten sich die Wunden und das Blut fliesse von neuem —, 
und als Günther ihr eben einzureden sucht, fremde Räuber hätten 
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