Die Geschichte des alten Wolfs. Die Siegerin.
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„Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es mir
das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen. Ist
das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und
wann bei deiner Äerde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht —"
„Spare der Worte!" sagte der Schäfer. „Du müßtest gar keine Schafe
fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte.
Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Äunger
kranke Schafe für tot und gesunde Schafe für krank ansehen. Mache
auf meine Freundschaft also keine Rechnung und geh!"
6. Ich muß nun schon mein Liebstes daranwenden, mit zu meinem
Zwecke zu gelangen, dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.
„Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf. „Dein Pelz?"
sagte der Schäfer. „Laß sehen! Er ist schön; die Äunde müssen dich
nicht oft untergehabt haben." „Run, so höre, Schäfer; ich bin alt und
werde es so lange nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich
vermache dir meinen Pelz." „Ei, sieh doch!" sagte der Schäfer.
„Kommst du auch hinter die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein;
dein Pelz würde mich am Ende fiebennial mehr kosten, als er wert
wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk damit zu machen,
so gib ihn mir gleich jetzt!" hiermit griff der Schäfer nach der Keule,
und der Wolf fioh.
7. „O, die Unbarmherzigen!" schrie der Wolf und geriet in die
äußerste Wut. „So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der
Äunger tötet; denn sie wollen es nicht besser!" Er lies, brach in die
Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder und ward nicht
ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen. Da sprach der weiseste
von ihnen: „Wir taten doch wohl unrecht, daß wir den alten Räuber
auf das Äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät
und erzwungen sie auch war, benahmen!"
11. Die Siegerin.
Von Marie von Ebner-Eschenbach.
Es kam einst zu einem ungeheuren, einem echten Titanenkampf.
Alle Tugenden und alle Laster rangen miteinander aus Leben und Tod.
Furchtbare Wunden klafften, in Strömen floß das Blut. Hinterlist
und Tücke hatten die Gerechtigkeit überwältigt und ihr den Arm ge¬
lähmt. Zerfleischt von den Zähnen und Klauen des Äasses und der
Eifersucht erstarb die Liebe; die Großmut röchelte unter den würgenden
Äänden der Habgier. Vielen Tugenden erging es schlecht an dem