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Volksausdrücke wolle er haben, keine höfischen Wörter. Die Mutter
im Hause, die Rinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem
Markte sollten die freunde fragen, wie man deutsch rede, denen sollten
sie „aufs Maul sehen", wir haben noch einzelne Handschriften seiner
Übersetzung, da ist dieselbe Stelle oft mehrmals durchstrichen, bis er
das Rechte gefunden hatte. So gibt es auch ein Bild der Gewissen¬
haftigkeit, mit der er arbeitete, wenn er bei der Übersetzung von
Offenbarung 21 am Schluß des ganzen Werks nochmals die Zeder
niederlegt und durch Spalatin die kurfürstliche Rammer ersucht, sie
möge ihm Muster der Edelsteine zuschicken, die Offenbarung 21, 19
erwähnt werden, damit er sich auch vorstellen könne, wie das neue
Jerusalem aussehe, das in Jaspis, Saphir, Ehalcedon, Smaragd,
Sardonyx, Sardis, Chrysolith, Beryll, Topas, Chrysopras, Hyacinth und
Rmethysl soll gegründet werden, ähnlich studiert er Zoologie, um die
Raubvögel und alles Gewürm in der Bibel richtig zu bezeichnen. Diese
seltene Gewissenhaftigkeit und Treue paarte sich bei Luther mit einer
Zähigkeit, in den religiösen Geist des Originals einzudringen, wie
sie nur dem Genius gegeben ist. Um die patriarchalische Einfalt, die
durchaus schlichte, kindliche Rrt des biblischen Crzählungstones zu treffen,
den poetischen Schwung der Propheten und Psalmen wiederzugeben
und wieder die volkstümliche Unmittelbarkeit der Evangelien treu nach¬
zubilden, dazu gehört eine kongeniale Uder, dazu gehört die naive,
treuherzige Ursprünglichkeit eines unverbildeten Gemüts, die man mit
aller Gelehrsamkeit nicht erlernen, wohl aber über Büchern leicht
verlernen kann. So wie Luther übersetzte, konnte nur ein großer
Dichter übersetzen und ein guter, reiner Mensch. Rls es an die Über¬
setzung des alten Testaments ging, vereinigte sich der Zreundeskreir
zu gemeinsamer und regelmäßiger Rrbeit. wir haben von der Rrt
der Beteiligung der einzelnen Mitarbeiter einen Bericht Melanchthons-
Danach war der alte Rlosterpräzeptor Bugenhagen der Grammatikus,
der den einfachen Wortsinn des Textes klar darlegte. Melanchthon
selbst nennt sich den Dialektikus, der versteht, was sich mit gutem Zug
aus dem Texte spinnen läßt. Justus Jonas ist der Grator, der dem
schönen, vollen Rusdruck findet und die Worte zum Markte richtet,
Doktor Martinas aber ist alles in allem, von der Nachprüfung des
großen Werkes, mit der Luther seit 1539 beschäftigt war, erzählt
Mathesius, Luther habe sich einen eigenen „Sanhedrin" gebildet, der
sich etliche Stunden vor dem Rbendessen in Luthers Kloster versammelte.
Ls waren Bugenhagen, Jonas, Cruciger, Melanchthon, Rurogallus
und der Wittenberger Diakon Georg Rörer, der sich bei der Rorrektur
nützlich machte und das Protokoll über die beschlossenen Änderungen
führte. Luther hatte alle Übersetzungen zur Hand und hatte sich zuvor
„bei alten Deutschen von guten Worten befragt". „Dann kam der
Doktor in das Ronsistorium mit seinen alten lateinischen und neuen