Full text: Prosaband (Teil 9 der Ausgabe A, Teil 6 der Ausgabe B, [Schülerband])

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Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Naturpoesie der 
Hebräer, daß sie die Natur nicht schildert als ein für sich Bestehendes, 
durch eigne Schönheit verherrlichtes,- dem hebräischen Sänger erscheint 
sie immer in Beziehung auf eine höher waltende geistige Macht. Die 
Natur ist ihm ein Geschaffenes, Ungeordnetes, der lebendige Nusdruck 
der Nllgegenwart Gottes in den Werken der Sinnenwelt. Deshalb ist 
die lyrische Dichtung der Hebräer schon ihrem Inhalte nach großartig 
und von feierlichem Ernst, sie ist trübe und sehnsuchtsvoll, wenn sie 
die irdischen Zustände der Menschheit berührt. Bemerkenswert ist auch 
noch, daß diese Poesie trotz ihrer Größe, selbst im Schwünge der 
höchsten, durch den Zauber der Musik hervorgerufenen Begeisterung 
fast nie maßlos wie die indische Dichtung wird. Der reinen Unschauung 
des Göttlichen hingegeben, sinnbildlich in der Sprache, aber klar und 
einfach in dem Gedanken, gefällt sie sich in Gleichnissen, die fast 
rhythmisch, immer dieselben, wiederkehren. 
5lls Naturbeschreibungen sind die Schriften des Ulten Bundes eine 
treue Abspiegelung der Beschaffenheit des Landes, in welchem das 
Volk sich bewegte, der Abwechslung von Gde, Fruchtbarkeit und liba- 
notischer Waldbedeckung, die der Boden von Palästina darbietet. Sie 
schildern die Verhältnisse des Klimas in geregelter Zeitfolge, die Sitten 
der Hirtenvölker und deren angestammte Ubneigung gegen den Feldbau. 
Die epischen oder historischen Darstellungen sind von naiver Einfach¬ 
heit, fast noch schmuckloser als herodot, naturwahr, wie, bei so ge¬ 
ringer Umwandlung der Sitten und aller Verhältnisse des Nomaden¬ 
lebens, die neueren Keifenden einstimmig es bezeugen. Geschmückter 
aber und ein reiches Naturleben entfaltend ist die Lyrik der Hebräer. 
Man möchte sagen, daß in dem einzigen 104. Psalm das Bild des 
ganzen Kosmos dargelegt ist: „Der Herr, mit Licht umhüllet, hat 
den Himmel wie einen Teppich ausgespannt. Er hat den Erdball auf 
sich selbst gegründet, daß er in Ewigkeit nicht wanke. Die Gewässer 
quellen von den Bergen herab in die Täler, zu den Orten, die ihnen 
beschieden: daß sie nie überschreiten die ihnen gesetzten Grenzen, aber 
tränken alles Wild des Feldes. Der Lüfte Vögel singen unter dem 
Laube hervor. Saftvoll stehen des Ewigen Bäume, Libanons Zedern, 
die der Herr selbst gepflanzt, daß sich das Federwild dort niste 
und auf Tannen sein Gehäus der Habicht baue." Es wird beschrieben 
„das Weltmeer, in dem es wimmelt von Leben ohne Zahl. Da wandeln 
die Schiffe, und es regt sich das Ungeheuer, das du schufest, darin zu 
scherzen." Es wird „die Saat der Felder, durch Menschenarbeit bestellt, 
der fröhliche Weinbau und die Pflege der Glgärten" geschildert. Die 
Himmelskörper geben diesem Naturbilde seine Vollendung. „Der Herr 
schuf den Mond, die Zeiten einzuteilen, die Sonne, die das Ziel kennt 
ihrer Bahn. Es wird Nacht, da schwärmt Gewild umher. Nach Kaube 
brüllen junge Löwen und verlangen Speise von Gott. Erscheint die
	        
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