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Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Naturpoesie der
Hebräer, daß sie die Natur nicht schildert als ein für sich Bestehendes,
durch eigne Schönheit verherrlichtes,- dem hebräischen Sänger erscheint
sie immer in Beziehung auf eine höher waltende geistige Macht. Die
Natur ist ihm ein Geschaffenes, Ungeordnetes, der lebendige Nusdruck
der Nllgegenwart Gottes in den Werken der Sinnenwelt. Deshalb ist
die lyrische Dichtung der Hebräer schon ihrem Inhalte nach großartig
und von feierlichem Ernst, sie ist trübe und sehnsuchtsvoll, wenn sie
die irdischen Zustände der Menschheit berührt. Bemerkenswert ist auch
noch, daß diese Poesie trotz ihrer Größe, selbst im Schwünge der
höchsten, durch den Zauber der Musik hervorgerufenen Begeisterung
fast nie maßlos wie die indische Dichtung wird. Der reinen Unschauung
des Göttlichen hingegeben, sinnbildlich in der Sprache, aber klar und
einfach in dem Gedanken, gefällt sie sich in Gleichnissen, die fast
rhythmisch, immer dieselben, wiederkehren.
5lls Naturbeschreibungen sind die Schriften des Ulten Bundes eine
treue Abspiegelung der Beschaffenheit des Landes, in welchem das
Volk sich bewegte, der Abwechslung von Gde, Fruchtbarkeit und liba-
notischer Waldbedeckung, die der Boden von Palästina darbietet. Sie
schildern die Verhältnisse des Klimas in geregelter Zeitfolge, die Sitten
der Hirtenvölker und deren angestammte Ubneigung gegen den Feldbau.
Die epischen oder historischen Darstellungen sind von naiver Einfach¬
heit, fast noch schmuckloser als herodot, naturwahr, wie, bei so ge¬
ringer Umwandlung der Sitten und aller Verhältnisse des Nomaden¬
lebens, die neueren Keifenden einstimmig es bezeugen. Geschmückter
aber und ein reiches Naturleben entfaltend ist die Lyrik der Hebräer.
Man möchte sagen, daß in dem einzigen 104. Psalm das Bild des
ganzen Kosmos dargelegt ist: „Der Herr, mit Licht umhüllet, hat
den Himmel wie einen Teppich ausgespannt. Er hat den Erdball auf
sich selbst gegründet, daß er in Ewigkeit nicht wanke. Die Gewässer
quellen von den Bergen herab in die Täler, zu den Orten, die ihnen
beschieden: daß sie nie überschreiten die ihnen gesetzten Grenzen, aber
tränken alles Wild des Feldes. Der Lüfte Vögel singen unter dem
Laube hervor. Saftvoll stehen des Ewigen Bäume, Libanons Zedern,
die der Herr selbst gepflanzt, daß sich das Federwild dort niste
und auf Tannen sein Gehäus der Habicht baue." Es wird beschrieben
„das Weltmeer, in dem es wimmelt von Leben ohne Zahl. Da wandeln
die Schiffe, und es regt sich das Ungeheuer, das du schufest, darin zu
scherzen." Es wird „die Saat der Felder, durch Menschenarbeit bestellt,
der fröhliche Weinbau und die Pflege der Glgärten" geschildert. Die
Himmelskörper geben diesem Naturbilde seine Vollendung. „Der Herr
schuf den Mond, die Zeiten einzuteilen, die Sonne, die das Ziel kennt
ihrer Bahn. Es wird Nacht, da schwärmt Gewild umher. Nach Kaube
brüllen junge Löwen und verlangen Speise von Gott. Erscheint die