Full text: Prosaband (Teil 9 der Ausgabe A, Teil 6 der Ausgabe B, [Schülerband])

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(Es gibt aber auch Dinge in der Natur, über deren Eindruck wir 
gar nicht hinauszudenken wünschen, so vollbefriedigt sind wir in der 
Anschauung ihrer Schönheit. Der nach Westen offene, feingezeichnete 
Bogen der Mondsichel im letzten viertel ist ein viel zu zartes Bild, 
als daß wir, wenn er in der Morgendämmerung steht, über seinen 
Zusammenhang mit dem Vollmond viel nachzudenken wünschten. Vieser 
Eindruck und der des Vollmondes liegen zu weit auseinander, als 
daß wir nicht fürchten müßten, den einen durch den andern zu stören. 
Es ist freilich nur die echteste Größe oder Schönheit, die so wirkt. 
2. 
Die ungebrochene Fläche des Meeres ist die weiteste Ebene, die 
es in der Natur gibt. Lin großes Flachland mag ebensoviel Umblick 
gewähren wie das Meer, es ist niemals derselbe große Eindruck, weil 
dem Lande die Einheit des Stoffes und der Farbe fehlt, und weil über¬ 
haupt völlige Ebenheit auf dem Lande selten ist. Neine Unebenheit 
hindert die Sonne, ihren Glanz über das Meer auszubreiten. Ein 
frei und offen hinausziehendes Meer im vollen Sonnenlicht steht dem 
Himmel näher als der Erde. Darwin sagt beim Blick in die endlosen 
Buchten der Magalhaensstraße: sie schienen über die Grenzen dieser 
Welt hinauszuführen, prüfe den „Zug zum Meere" in dir selbst oder 
in andern, die davon erfaßt worden sind, du wirst immer auf die 
weite der Horizonte als auf das tiefst wirksame im Eindruck der 
Meeresbilder geführt werden, wer lange in Gebirgstälern nur ein 
Stück ,Himmel und selten auch nur einen Nusschnitt freien Gesichts¬ 
kreises über und um sich gehabt, findet freilich schon die Ebene be¬ 
freiend. Wohl hat auch die Ebene die weite Erstreckung bis an die 
äußerste Grenze des Gesichtskreises und darüber den hohen Himmel. 
Nur ist beim Meer dieser Eindruck einfacher, reiner und daher größer. 
Dagegen ist das Leben des Meeres mit seinem Wechsel von Stille und 
Sturm, mit seinem Wellenschlag und seinen Gezeiten selbständiger und 
reicher als das der Ebene, wo die Bäche unhörbar gehen und die 
wogenden Getreidefelder im Boden festgewurzelt stehen. Vas Meer 
bietet daher viel mehr als nur die höchste Steigerung der Eindrücke 
der Ebene. Es ist nach dem Himmel das größte Bild von räumlicher 
Erhabenheit, das menschlichem Buge zu erblicken vergönnt ist, und 
teilt mit dem Himmel die große Eigenschaft des Immerdasselbeseins 
und Immerdasselbebleibens über die ganze Erde hin. welcher Gegen¬ 
satz schon darin zum Leben, vor allem zu uns selbst! 
Ein Teil von dieser Erhabenheit der weite geht auf alle Wasser¬ 
flächen über, wenn Wolken oder Nebelschleier über das jenseitige 
Ufer eines Sees oder Flusses sich herabsenken, glaubt man aufs Meer 
hinauszublicken. Wellenschlag und Sturm sind in noch höherem Grade 
meerähnlich, wer den Sinn hat, das zu empfinden, fühlt sich hier
	        
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