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(Es gibt aber auch Dinge in der Natur, über deren Eindruck wir
gar nicht hinauszudenken wünschen, so vollbefriedigt sind wir in der
Anschauung ihrer Schönheit. Der nach Westen offene, feingezeichnete
Bogen der Mondsichel im letzten viertel ist ein viel zu zartes Bild,
als daß wir, wenn er in der Morgendämmerung steht, über seinen
Zusammenhang mit dem Vollmond viel nachzudenken wünschten. Vieser
Eindruck und der des Vollmondes liegen zu weit auseinander, als
daß wir nicht fürchten müßten, den einen durch den andern zu stören.
Es ist freilich nur die echteste Größe oder Schönheit, die so wirkt.
2.
Die ungebrochene Fläche des Meeres ist die weiteste Ebene, die
es in der Natur gibt. Lin großes Flachland mag ebensoviel Umblick
gewähren wie das Meer, es ist niemals derselbe große Eindruck, weil
dem Lande die Einheit des Stoffes und der Farbe fehlt, und weil über¬
haupt völlige Ebenheit auf dem Lande selten ist. Neine Unebenheit
hindert die Sonne, ihren Glanz über das Meer auszubreiten. Ein
frei und offen hinausziehendes Meer im vollen Sonnenlicht steht dem
Himmel näher als der Erde. Darwin sagt beim Blick in die endlosen
Buchten der Magalhaensstraße: sie schienen über die Grenzen dieser
Welt hinauszuführen, prüfe den „Zug zum Meere" in dir selbst oder
in andern, die davon erfaßt worden sind, du wirst immer auf die
weite der Horizonte als auf das tiefst wirksame im Eindruck der
Meeresbilder geführt werden, wer lange in Gebirgstälern nur ein
Stück ,Himmel und selten auch nur einen Nusschnitt freien Gesichts¬
kreises über und um sich gehabt, findet freilich schon die Ebene be¬
freiend. Wohl hat auch die Ebene die weite Erstreckung bis an die
äußerste Grenze des Gesichtskreises und darüber den hohen Himmel.
Nur ist beim Meer dieser Eindruck einfacher, reiner und daher größer.
Dagegen ist das Leben des Meeres mit seinem Wechsel von Stille und
Sturm, mit seinem Wellenschlag und seinen Gezeiten selbständiger und
reicher als das der Ebene, wo die Bäche unhörbar gehen und die
wogenden Getreidefelder im Boden festgewurzelt stehen. Vas Meer
bietet daher viel mehr als nur die höchste Steigerung der Eindrücke
der Ebene. Es ist nach dem Himmel das größte Bild von räumlicher
Erhabenheit, das menschlichem Buge zu erblicken vergönnt ist, und
teilt mit dem Himmel die große Eigenschaft des Immerdasselbeseins
und Immerdasselbebleibens über die ganze Erde hin. welcher Gegen¬
satz schon darin zum Leben, vor allem zu uns selbst!
Ein Teil von dieser Erhabenheit der weite geht auf alle Wasser¬
flächen über, wenn Wolken oder Nebelschleier über das jenseitige
Ufer eines Sees oder Flusses sich herabsenken, glaubt man aufs Meer
hinauszublicken. Wellenschlag und Sturm sind in noch höherem Grade
meerähnlich, wer den Sinn hat, das zu empfinden, fühlt sich hier