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Das war im Sommer 1770.
Und siehe da, rasch wechseln Zeit und Ort: statt der siebziger Jahre
des achtzehnten liegen die vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts
vor uns, und statt in die kleine Schneiderstube blicken wir in den großen
Aktsaal der Berliner Akademie. Die Schüler sind bereits versammelt, und
jedes einzelnen Ernst und Aufmerksamkeit ist eine gesteigerte, denn der
„Alte" ist eben eingetreten, um nach dem Rechten zu sehen. Dieser „Alte",
ein Achtziger schon, aber immer noch ein Mann aus dem vollen, schreitet
langsam von Platz zu Platz, und nur dann und wann bleibt er stehen
und blickt musternd über die Schulter der Zeichnenden. „Det is jut,"
sagt er dem einen und klopft ihm als Zoll der Anerkennung mit seiner
mächtigen Hand auf den Kopf. „Det is nischt," sagt er zu dem andern
und geht weiter. Ein Dritter müht sich eben, den Umriß einer mensch¬
lichen Figur auf dem Papier festzuhalten, aber die Linien sind nicht sicher
gezogen, und die Verhältnisse sind falsch. Der Alte heißt ihn ausstehen,
nimmt seinerseits Platz auf dem leer gewordenen Stuhl und sagt dann
lakonisch: „Nu pass' uff! Ich mach' det so." Dabei nimmt er des Schülers
Kreidestift, tupft Punkte mit fester Hand auf das graue, grobkörnige
Zeichenpapier, und während er diese Punkte mittels sicher gezogener Linien
untereinander verbindet, brummt er vor sich hin: „Det' hab' ich von
meinem Vater. Der war'n Schneider."
Gottfried Schadow, der Schneiderssohn, ist Gottfried Schadow, der
Akademiedirektor, geworden, ein berühmter Mann, ein Name, der Klang
hat von einem Ende Europas bis zum andern. Derselbe Gottfried, der
dienstfertig aufsprang, wenn der strenge Vater mit dem Deckelkruge klappte,
derselbe Gottfried ist jetzt seinerseits ein strenger Hausherr geworden,
vielleicht nicht strenger als der Vater, aber mächtiger und gefürchteter.
Sein Haus ist die Akademie, darin waltet er als König und Herr.
Ob das Sacktuch, das er aus seinem taschenreichen Rocke zieht, von Kattun
ist oder von Seide; ob er riesige Filzschuhe trägt oder kalblederne Stiefel
(in die, der Ballen und Zehen halber, immer große Löcher geschnitten sind),
ob er hochdeutsch spricht oder in seinem Berliner Platt — es kümmert ihn
nicht und kümmert andere nicht, denn weder er noch andere vergessen es,
daß er „der alte Schadow" ist. Herrschergewohnheit und das Bewußtsein
völliger Überlegenheit haben seinem Auftreten längst jede Spur von Scheu
genommen, und was er denkt und fühlt, das spricht er aus. Sein Wille
ist Gesetz; seine Laune nicht minder. Eine kleine Szene mag schildern,
wie er das Zepter fiihrt.
Es ist eine Abendsitzung. Der akademische Senat hat sich versammelt,
berühmte Maler und Bildhauer; keiner fehlt. Der Saal ist hell erleuchtet,
und das Licht fällt auf die schönen Blechenschen Zeichnungen, die ringsum
an den Ständern und Wandschirmen befestigt sind. Am oberen Ende des
Ovaltisches aber, dessen grüne Decke mit vielen hundert Goldnägelchen an